Zugvögel können Nester bauen

Zugvögel können Nester bauen

"Über uns der Himmel"  Dschungel Wien (Foto: Rainer Berson)

In Zeiten wie diesen ist es unumgänglich, sich im Theater mit dem Thema Migration auseinanderzusetzen. Wie das in vorbildhafter und zugleich höchst poetischer Weise geschehen kann, zeigte der Dschungel Wien. „Über uns nur der Himmel“ war der Titel einer Koproduktion mit „Wien Modern“, für die Corinne Eckenstein gemeinsam mit Sanja Tropp-Frühwald die Choreografie erarbeiteten.

Eine Gruppe, zusammengesetzt aus Tanzprofis und Kindern zeigten zu Musik von drei Komponistinnen und acht Komponisten ein ganzes Spektrum an Annäherungen zu diesem Thema, ohne jemals den Belehrungsfinger oder einen Holzhammer auszupacken. Vielmehr durfte das Publikum in ein Abenteuer eintauchen, das Schrecken einer dunklen Nacht genauso bereit hielt wie ausgelassenes Spiel und Freude am Entdecken von Neuem. Und dies anhand einer Kinderschar, die sich gezwungenermaßen – wie Zugvögel – auf den Weg machen müssen, um ein neues Zuhause zu finden.

Dabei gelangen sie immer wieder an eine Mauer, die sie nicht überwinden können, oder über die sie, hochgehievt, nur sehnsüchtig blicken können. Vieles, was in dieser Inszenierung im Tanz „erzählt“ wird, ist intuitiv nachvollziehbar. Die Müdigkeit, die schier endlose Reise, der Schlaf, der sie überkommt, das Gemeinschaftsgefühl und der Kampf gegen Unbekanntes und Verbotenes. In flüssigen Bewegungsabläufen mit zum Teil synchronen Passagen, einer außergewöhnlichen Szene, in welcher eines der Mädchen in tiefem Schlaf, wie leblos von ihrem erwachsenen Begleiter gehoben, geschoben, gehievt, gerollt und behutsam bewegt wird, ist der Tanz ein adäquates Mittel, Emotionen, aber auch jede Menge Bilder im Kopf zu vermitteln.

Vier Frauen sitzen mit langen Tarnröcken auf einem kleinen Podest und spielen ein Streichquartett

Koehne-Quartett (Foto: Rainer Berson)

Das Koehne-Quartett tritt dabei optisch, trotz andauernder Bühnenpräsenz, durch tarnfarbige Kostüme, in den Hintergrund. (Kostüme und Bühne Ilona Glöckel) In kurzen Stücken, angesiedelt zwischen Wohlklang und gänzlicher Atonalität, wird eine musikalische Begleitung geboten, die sich atmosphärisch den jeweiligen Vorgängen anschmiegt. Sich auf den Weg machen zu müssen und keine Bleibe zu haben, nicht einmal ein Nest, so wie dies die Zugvögel tun können, ist das Hauptthema von „Über uns nur der Himmel“ und regt, anders als Diskurse über Flüchtlingsströme, nicht vorrangig zum Nachdenken, sondern zum Mitfühlen an. Und so wechselt das Geschehen auch immer wieder zwischen Vogel- und Menschengemeinschaften und bietet sogar einen bezaubernden Tierzirkus.

Die Kunst, Profis und Kinder so auf der Bühne zu vereinen, dass es dabei zu keinen Hierarchien kommt – diese Kunst beherrschen Eckenstein und Tropp-Frühwald exzellent.

Koehne Quartett: Joanna Lewis, Violine, Diane Pascal, Violine, Lena Fankhauser, Viola, Mara Achleitner, Violoncello

TänzerInnen: Jaskaran Anand, Silvia Both, Lino Eckenstein, René Friesacher, Roni Sagi; Tanzcoach Gat Godovich

DarstellerInnen: Laura Biz, Lino Eckenstein, Greta Follak, Sophia Valentina Gomez Schreiber, Sina Pourkarami, Sam Tosun

Musik von: Christine Burke, Angélica Castelló, Denis Dufour, Joanna Lewis, Dimitris Mousouras, Max Nagl, Werner Pirchner, John Psathas, Ahmed Adnan Sygun, Peter Sculthorpe und Paul Stanhope

Ein Konzertabend ohne Dirigat

Ein Konzertabend ohne Dirigat

Ein Konzertabend ohne Dirigat

 

Eröffnungskonzert Wien Modern (Foto: Markus Sepperer)

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November 2018

Es ist schon eine Selbstverständlichkeit, dass die Konzerte von Wien Modern eine unglaublich gute, inhaltlich kongruente Programmierung aufweisen. Unter Beweis stellte dies der Intendant, Bernhard Günther, gleich beim Eröffnungskonzert der Saison 2018 im Konzerthaus, die unter dem Motto „Sicherheit“ steht.

Dabei zeigte sich, dass das Generalthema schon auch einmal schwer hinterfragt, wenn nicht sogar auf den Kopf gestellt werden darf. Denn in dem Konzert mit den Wiener Philharmonikern war – zumindest für das Orchester – überhaupt nichts sicher.

Schließlich sind es die Musizierenden gewohnt, einen Dirigenten oder eine Dirigentin als Sicherheitsanker vor sich zu haben. Jemandem, mit dem das Konzert nicht nur erarbeitet wurde, sondern jemanden, der dieses letztlich auch leitet. An diesem Abend aber mussten sie ohne Dirigat auskommen. Dass dies dennoch funktionierte, hängt einerseits mit den ausgesuchten Stücken zusammen. Andererseits aber auch mit dem herausragenden Klangkörper und seinem Konzertmeister, Rainer Honeck, der spürbar eine Art interimistische Leitungsfunktion übernahm.

Gleich zu Beginn wurde jenes legendäre Stück von John Cage performt, in dem kein einziger Ton gespielt wird. 4‘33‘‘ aus dem Jahr 1953 beeindruckt das Publikum jedes Mal aufs Neue und ist mittlerweile – mit der Handynutzung – in unserer Zeit angekommen. Das „Einfrieren“ des Orchesters, das nach jedem der drei „Sätze“ kurz unterbrochen wurde, erzeugte ein ganz eigenartiges Gefühl. So, als ob die Zeit stehen geblieben und der Saal samt Orchester und Publikum aus jeglicher Zeitmessung gefallen wäre. Dass kurz vor Ende ein Mann sich aus den hinteren Parkettreihen bemüßigt fühlte, ein lautes „Alleluja“ von sich zu geben, erweiterte Cages Idee durch eine persönliche Wortmeldung humorig. Und zeigte zugleich auch, dass jede einzelne Aufführung von 4‘33‘‘ Komponenten bereithält, die zum Teil auch nicht vorhersehbar sind.

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Eröffnungskonzert Wien Modern (Foto: Markus Sepperer)

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Eröffnungskonzert Wien Modern (Foto: Markus Sepperer)

Ein absolutes Konzerthighlight folgte im Anschluss mit der „Verklärten Nacht“ von Arnold Schönberg. Ein häufig gespieltes Stück, das jedoch an diesem Abend so interpretiert wurde, dass man es ohne Übertreibung als Referenzaufnahme titulieren kann. Es sind nur Mutmaßungen, warum an diesem Abend die Spannung, die dem Stück innewohnt und das Drängen, das darin zum Ausdruck kommt, derart intensiv waren und warum die Pianissimo-Stellen eine sphärische Kraft entwickelten, die in dieser Art nicht selbstverständlich ist.

Ein Erklärungsmodell hängt damit zusammen, dass das Fehlen einer dirigierenden Person alle Kräfte eines Orchesters offenbar dermaßen mobilisierst, das Sensorium für ein gelungenes Zusammenspiel derart schärft, dass es zu einer Höchstleistung angestachelt wird. Denkbar ist auch, dass das Erarbeiten des Stückes ohne Dirigat in einer Art und Weise vonstatten geht, in welcher sich die Musikerinnen und Musiker wesentlich stärker einbringen können als dies der Fall ist, wenn ihnen eine Interpretations-Idee, die von außen kommt, vermittelt wird. Schließlich wird die Klasse der Musizierenden auch insofern deutlich, als sich alle aufeinander blind verlassen können und wissen, dass rund um sie herum nur musikalische Exzellenz arbeitet. Es wäre wunderbar, wenn der ORF, der das Konzert live in Oe1 übertrug, diese Aufnahme auskoppeln könnte und vielleicht mit anderen Highlights der Philharmoniker oder des Festivals auf CD anbieten würde. Zumindest bis zum 4. November besteht noch die Möglichkeit, es auf der Seite von Oe1 nachzuhören.

Mit dem zweiten Cage-Stück – Sixty-Eight – wurde abermals klar, dass moderne Mobiltelefone mehr als nur eine Funktion – nämlich das Telefonieren – haben. Die Notation ist so angelegt, dass die Spielenden frei in der Entscheidung sind, innerhalb eines gewissen, vorgegebenen Zeitrahmens ihren Part zu spielen. Dementsprechend waren auch alle Musizierenden mit ihren Handys ausgestattet, um ihren jeweiligen Einsatz nicht zu verpassen. Trotz aller Freiheit – die dennoch nur eine vermeintliche ist – zeigt sich dieses Werk als extrem strukturiert, lässt aber einen sinnlichen, musikalischen Ausdruck nicht vermissen.

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Eröffnungskonzert Wien Modern (Fotos: Markus Sepperer)

Als Abschluss erklang ‚Scattered Light“ von Johannes Maria Staud. Ein Auftragswerk, das er Bernhard Günther widmete. Vorgabe war, eine Komposition zu schreiben, die ohne Dirigat auskommt und so überlegte sich Staud ein metrisches System, das von einer strikten Rhythmusvorgabe im Klavier das gesamte Orchester mitträgt. Im Programmheft war von einem Spannungsfeld zwischen Präzision (Pulsation) und der Unschärfe (ausgelöst durch zwangsläufig auftretende kleinere agogische Abweichungen zwischen den Instrumentengruppen) zu lesen. Und tatsächlich war diese leichte Verschiebung auch hörbar. Das Orchester kam in seiner ganzen instrumentalen Bandbreite zum Einsatz, wobei zum Teil zeitgenössische Spieltechniken angewandt wurden. Stauds Komposition kann als dunkles Klangwolkenkonstrukt beschrieben werden, das mit wilden Pauken und Blech eine organische Bedrohung evoziert. Die Klangfarben bilden ein wildes, lebendiges Etwas ab, das sich aufmacht, Schrecken zu verbreiten und sich am Schluss leise, mit hörbaren Atemgeräuschen aus dem Geschehen verabschiedet. Bravo-Rufe und langer Applaus machten die Zustimmung des Publikums deutlich. Ein fulminanter Auftakt zu einem – das ist sicher – spannenden Festivalmonat von Wien Modern.

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Wie es gewesen sein könnte

Wie es gewesen sein könnte

Wie es gewesen sein könnte

Von Michaela Preiner

Styriarte – „Schubert – Unvollendete“ (Foto: Styriarte)
16.

Juli 2018

Einen außergewöhnlichen Konzertabend durfte das Grazer Publikum im Stefaniensaal im Rahmen der Styriarte erleben.

Der Concentus Musicus gastierte unter dem Dirigat des jungen Musikers Stefan Gottfried. Gemeinsam mit dem Konzertmeister Erich Höbarth und Andrea Bischof (2. Violine) hat dieser nach dem Rücktritt von Nikolaus Harnoncourt die Leitung des Ensembles übernommen. Dass es nach wie vor qualitativ zu den besten der Welt zählt, stellte es an diesem Abend unter Beweis.
Gewidmet war das Programm Franz Schubert, den man sowohl im ersten als auch im zweiten Teil spielte. Mit dem internationalen Bass-Bariton-Star Florian Boesch erklangen nach der Ouvertüre zum Zauberspiel „Die Zauberharfe“ einige atmosphärisch sehr intelligent ausgesuchte Schubert-Lieder mit Orchesterbegleitung. Sowohl Anton Webern als auch Johannes Brahms hatten diese vertont, wenngleich sie leider nicht oft zu hören sind und deswegen viele im Publikum überraschten.

Dem vollen Klang, den Boesch an seiner Seite als Ausgangsmaterial hatte, musste eine ebenso füllige Stimme beigegeben werden. Kein leichtes Unterfangen, bedenkt man, dass normalerweise die Lieder nur mit Klavier begleitet werden und aus diesem Grund das Stimmvolumen bei weitem nicht so groß sein muss. Boesch zeigte jedoch, was es heißt, Schuberts Lieder nicht nur herausragend zu singen, sondern sie von ihrem Grund auf auch zu verstehen. Er erarbeitete sich die Texte so, wie dies ein genialer Schauspieler machen würde, der in einem einzigen Satz imstande ist, die Stimmung mehrfach zu wechseln. Auch Boesch konnte in ein- und derselben Strophe vom zartesten Pianissimo zu Forte aufbrausen vice versa und beeindruckte nicht nur mit seinem herausragenden Bariton, sondern auch mit seiner Gestik und Mimik.

Dabei kam kein einziges Mal ein triefendes Pathos auf, welches andere Sänger gerne benutzen, um den Liedern eine abgehobene Künstlichkeit aufzuoktruieren. Die Interpretation von Boesch in Begleitung des Orchesters, das zum Teil mit Instrumenten arbeitet, die auch zu Schuberts Zeiten eingesetzt wurden, stellte ein so außergewöhnlich beeindruckendes Hörerlebnis dar, dass man ohne Mühe prognostizieren kann, dass es lange Zeit im Musikgedächtnis des Publikums verankert bleiben wird.

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Styriarte: „Schubert – Unvollendete“ (Foto: Styriarte)

Der zweite Teil des Abends brachte ein Novum mit sich. Dafür setzte der Concentus musicus zwei Sätze vor den Beginn von Schuberts „Unvollendeter“, die selbst ja nur in zwei Sätzen überliefert ist. Das von Schubert für den dritten Satz vorgesehene Scherzo war von ihm auf nur 20 Takten auskomponiert worden. Die orchestrale Ergänzung und Neufassung nahm der Musikforscher und Dirigent Benjamin-Gunnar Cohrs vor. Als Finalsatz, der anschließend erklang, wollen mehrere Forscher den Zwischenakt zur Schauspielmusik „Rosamunde“ erkannt haben und tatsächlich konnte man, abgesehen von derselben Tonart, einige Parallelen und Verschränkungen zu den vorangegangenen Sätzen wahrnehmen. Das besondere Charakteristikum des Satzes ist eine unglaublich stark ausgeprägte, emotionale Klangdualität. Zwischen schwarz und weiß, lieblich und herrisch, zwischen lyrisch und polternd bewegen sich die Themen in diesem „Unter-Umständen-Finalsatz“ ohne Unterlass.

Wie sehr Franz Schubert mit dieser Komposition die Klassik bereits hinter sich gelassen hatte und bestrebt war, mit neuen Formen dem strengen, formalen Konzept zu entkommen, wurde mit diesem Konzert überdeutlich. Mit den Schlagworten „Emotion vor Konvention“ könnte man in aller Kürze jene kompositorische Idee umreißen, die der Komponist in seiner Unvollendeten zum Einsatz brachte und die seit beinahe 200 Jahren die Hörerinnen und Hörer so außerordentlich begeistert. Die Idee zur Präsentation, die unbekannten Sätze den bekannten voranzustellen, stammte von Alice Harnoncourt. Sie folgte damit dem Beispiel ihres Mannes, der auf diese Art und Weise schon Bruckners „Unvollendete“ mit Cohrs Ergänzungen zur Aufführung brachte.

Dass die Musizierenden des Ensembles mit einer Hingabe und Freude spielen, die in dieser Art sehr selten bei Orchestermitgliedern anzutreffen ist, war an diesem Konzertabend gut zu bemerken. Das lässt die berechtigte Hoffnung zu, dass der Concentus musicus, wenn er weiter Wege wie diese geht, weiße Flecken aus der Musikgeschichte in einer derart hohen Qualität zu präsentieren, auch in Zukunft seine herausragende Stellung nicht nur behaupten wird können, sondern vielleicht sogar auch ausbauen.

Auf der CD, die in diesem Herbst mit diesem Programm erscheinen wird, wird das Scherzo und das Trio an die beiden bekannten ersten Sätze angeschlossen werden. Damit wird eine „vollendete Unvollendete“ zu hören sein, die, was in Österreich zu erwarten ist, Diskussionen auslösen wird. Etwas Besseres kann klassischer Musik gar nicht passieren.

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Beethoven als Hoffnungsträger einer besseren Zukunft

Beethoven als Hoffnungsträger einer besseren Zukunft

Beethoven als Hoffnungsträger einer besseren Zukunft

Von Michaela Preiner

Styriarte – „Fidelio“ (Foto: Werner Kmetitsch)

14.

Juli 2018

Mit der konzertanten Aufführung von Beethovens Fidelio in der List-Halle bekannte das Styriarte-Team seine uneingeschränkte Solidarität mit Flüchtlingen in unserem Land.

„Historische Musik aufzuführen macht nur dann Sinn, wenn es einen aktuellen Bezug dafür gibt“, erklärte der Dramaturg Thomas Höft vor dem Konzert und verwies damit nicht zuletzt auch auf Nikolaus Harnoncourts Kunstverständnis.

Doch nicht nur die Aktualität, die Höft bei diesem Fidelio herstellen wollte, war ausschlaggebend für die multimediale Aufführung. Vielmehr auch das Gebot des Saales, in dem das gesprochene Wort wesentlich schlechter wahrgenommen wird als der Gesang mit einer Nachhallzeit von 3 Sekunden. Aus diesen Gründen war nach einer Möglichkeit gesucht worden, die Dialoge zwischen den Hauptcharakteren zu vermeiden. So machte man sich auf die Suche, ob es ähnliche Geschichten, wie jene von Leonore, der Ehefrau des eingekerkerten Florestans aus dem Libretto, gibt, die sich in unserer Zeit ereignen. Geschichten von Mut und Flucht, von Befreiung und Standhaftigkeit.

Fündig wurde man bei verschiedenen Flüchtlingshilfsorganisationen. Männer und Frauen, die es nach Österreich geschafft haben und sich in unterschiedlichen rechtlichen Flüchtlingsstadien befinden, vom anerkannten Flüchtling bis zu solchen, die vor der Abschiebung stehen, erzählten dafür kurz ihre Odysseen und Leidenswege. Diese Aufzeichnungen wurden zwischen die musikalischen Nummern eingebaut. Thomas Höfts Stimme aus dem Off gab vor jeder Videoeinspielung kurze Infos über die Menschen und ihre Schicksale und schuf so nachvollziehbare Überleitungen vom Geschehen auf der Bühne zu den jeweiligen Kurzfilmen.

Für so manch eine und einen im Publikum war dies schwer verdauliche Kost. Andere wiederum, wie in der Pause zu erfahren war, lehnten die Vorgangsweise aus ästhetischen Gründen ab. Glücklicherweise jedoch war beim Endapplaus von dieser Einstellung überhaupt nichts mehr zu spüren. Denn sonst hätte man die Erkenntnis zitieren müssen, dass Kulturkonsum, Menschlichkeit und Intelligenz nicht zwangsläufig Hand in Hand einhergehen.

Die Bühnen- und Kostümbildnerin Lilli Hartmann schuf sowohl für den Chor als auch für die Solistinnen und Solisten eine Bekleidungsvariante mit Jeans und blauen Hemden. Ein Bezug zu autoritären Regimen, in welchen alle gleichgeschaltet werden, zugleich aber auch die Einladung, diese Oper niederschwelliger zu transportieren, als dies normalerweise der Fall ist. Auch das Orchester inklusive seines Dirigenten – dem unglaublich stilsicher und lebhaft agierenden Andrés Orozco-Estrada – hielt sich an den Dresscode und spielte ebenfalls in Jeans und blauen Oberteilen.

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Styriarte – „Fidelio“ (Foto: Werner Kmetitsch)

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Styriarte – „Fidelio“ (Foto: Werner Kmetitsch)

Berückend gleich von Beginn an war die ausgefeilte Dynamik, die der Dirigent seinen Musikerinnen und Musikern entlocken konnte. Der rasche Wechsel zwischen laut und leise innerhalb weniger Takte brachte Beethovens Partitur so richtig zum Schillern. Auch der Einsatz von historischen Instrumentennachbauten war deutlich hörbar. Neben den mit Darmsaiten bespannten Streichern war dies am meisten wohl bei den samtigen Hörnern der Fall. An einer der kritischsten Stellen, an der eine kurze Bläser-Trio-Passage erklang, lieferte eine der Stimmen eine unüberhörbare Schieflage ab. Dieses musikalische Hoppala machte die Schwierigkeit der Spielbarkeit, die sich bei Naturhörnern gänzlich anders gestaltet als bei modernen Instrumenten, deutlich und zugleich den Musikgenuss zu einem höchst menschlichen. Einem, der so nur live im Konzertsaal zu erleben ist und klar macht, dass auch die Musikerinnen und Musiker bei ihrer Berufsausübung fehlbare Menschen sein können, wie wir alle es sind.

Als ein herausragendes Merkmal der Styriarte-Produktionen ist die treffsichere Besetzung zu nennen. Es ist immer wieder eine große Freude, derart gute Stimmen in Graz hören zu können. Mit Tetiana Miyus gelang eine fantastische Besetzung für Marzelline, deren glockenheller, klarer Sopran heftig umjubelt wurde. Johanna Winkel beeindruckte als Leonore nicht nur stimmlich, sondern auch optisch in der Verwandlung zu einem schlanken, großen Fidelio. Ausgezeichnet auch die Herren, unter anderen Johannes Chum als höchst zerbrechlich wirkender Florestan, Adrian Eröd als Minister, der die politisch motivierte Befreiung des Inhaftierten medienwirksam via Handy sofort verbreitete, Jochen Kupfer als Don Pizarro, welcher seine schauspielerischen Fähigkeiten als gewissenloser Mörder unter Beweis stellte und Thomas Stimmel als Rocco, der trotz einer Verletzung mit ruhig gestelltem Arm seine Partie herausragend sang.

Wie sehr das Konzept der Verschränkung zwischen aktuellem Geschehen und Beethovens Ideen von einer hoffnungsfrohen, besseren Welt funktionierte, konnte man bei jener Chorpassage mehr als deutlich spüren, in welcher die Gefangenen des Fidelio-Chors singen: „Oh welche Lust in freier Luft den Atem leicht zu heben.“ Denn mit der Personalisierung von Fluchtgeschichten war zuvor deutlich geworden, was es bedeutet, in einem freien Land leben zu dürfen, in welchem wir wahrlich alle genug Luft zum Atmen und genügend Ressourcen haben, Verfolgten ein neues Zuhause anzubieten. Zusammengesetzt war der Chor aus Profi-Stimmen verschiedener Grazer Chöre und sangesfreudigen Migrantinnen und Migranten, sodass in ihm 14 Nationen vertreten waren.

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Styriarte – „Fidelio“ (Foto: Werner Kmetitsch)

Ein berührender, intensiver Opernabend, der auch verdeutlichte, dass wir dringend Kulturinstitutionen wie die Styriarte brauchen. Denn diese lassen sich weder mundtot machen, noch biedern sie sich dem jeweiligen Regierungsstil an. Vielmehr sorgen sie immer wieder aufs Neue dafür, um dem Versteinern der Herzen unserer Gesellschaft, die sich permanent auf humanitär höchst fragliche Gesetze beruft, die unabdingbar seien, ein wirksames Mittel entgegenzusetzen.

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Krieg im Herzen

Krieg im Herzen

Jordi Savall (Foto: Werner Kmetitsch)

Jordi Savall ist ein Garant für volle Häuser. Beim diesjährigen Styriarte-Festival kam der Meisterschürfer historischer Musikraritäten mit großer Entourage auf die Bühne, der bis auf den letzten Platz ausverkauften Helmut List Halle. Ergänzend zu seinem „Concert des Nations“ hatte er mit der „Capella Reial de Catalunya“ ein Großaufgebot an Stimmenexzellenz mitgebracht. Notwendig war dies, da Teile aus dem 8. Madrigalbuch von Claudio Monteverdi zum Vortrag gebracht wurden. In diesem beschrieb der Ausnahmekomponist den Krieg und die Liebe, wobei, bis auf ein an dem Abend gespieltes Stück, nicht der Krieg zwischen Armeen, sondern der Krieg der Herzen besungen wurde. Jener kriegerische Zustand, in den die Liebe uns zuweilen treibt, ohne dass wir es wollen und gegen den wir meist vergeblich versuchen anzukämpfen.

Musikhistorisch bot der Abend eine Menge an Lehrmaterial. Denn mit der Übertitelung der einzelnen Stücke und der Texte verlor man nicht den Überblick und konnte so, wie nebenbei, erfahren, dass eine „Sinfonia“ bei Monteverdi gerade einmal aus einem Thema mit wenigen Takten bestand oder – wenn es üppig zuging, auch schon einmal 3 Sätze ausmacht, die in wenigen Minuten abgespielt sind. Dankenswerter Weise durfte man auf der Leinwand hinter den Musizierenden die kunstvolle Lyrik mitlesen, die so unglaubliche Sätze wie „Statt Blut weinte eine gequälte Seele für lange Zeit“, bereithielt, um nur ein Beispiel anzuführen.

Italiens wichtigster und einflussreichster Komponist seiner Zeit präsentierte sich mit diesem Madrigal-Konvolut, das er seinem Herrscher, Ferdinand III widmete, am Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Die Polyphonie der Renaissance, die ihn in seinen Messen so berühmt machte, ist hier überwunden. Das Zeitalter des Barock herangebrochen, in welchem unser tonales System für viele Jahrhunderte ausformuliert wurde. Monteverdi darf in vielerlei Hinsicht als einer der Stammväter der europäischen Musik bezeichnet werden. Selbst die Gattung der Oper hat er bereits angedeutet.

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La Capella Reial de Catalunya.(Foto: Werner Kmetitsch)

Neben aller musikhistorischer Erkenntnis stand jedoch eines ganz im Vordergrund: Ein sinnliches Erleben von in Musik gegossenen Emotionen rund um das Thema Liebe. Da gab es herzerweichende Lamenti zu hören ob der Untreue eines Mannes. Dann wieder illustrierte das Orchester und ein Männerterzett in höchst humoriger Art und Weise Angstzustände vor der Liebe, vor der man sich wie bei einem Kriegsgegner wappnen und auf Pferden so schnell wie möglich davon galoppieren müsse. Aber auch der Kampf zwischen Tancredi und Clorinda, die dabei ihr Leben verlor, erklang in einer konzertanten Inszenierung, die atemberaubend war. Verantwortlich dafür war der „Erzähler“ Furio Zanasi, der am vorderen Bühnenrand stehend, seine Rezitative und kurzen Arien körpersprachlich höchst illustrativ begleitete und dabei einen unglaublich guten „Draht“ zum Publikum aufbaute.

Besonderes Augenmerk wurde auf die Regie der Auf- und Abgänge des Gesangsensembles gelegt, das nicht, wie sonst oft – permanent auf der Bühne verharrte und regungslos auf seine Einsätze wartete. Dadurch konzentrierte sich das gesangliche Geschehen nur auf die jeweils Singenden, die allesamt an diesem Abend in Höchstleistung auftraten. Mit einem Kriegsmadrigal endend, durfte man eine abschließende Klangfülle erleben, die das Publikum so zu Begeisterungsstürmen hinriss, dass Maestro Savall dieses schließlich noch einmal als Zugabe erklingen ließ.

Clash of the cultures

Clash of the cultures

Clash of the cultures

Von Michaela Preiner

„Wien 1683“ (Foto: Werner Kmetitsch)
02.
Juli 2018

Großer Aufmarsch in der Helmut List Halle beim Styriarte-Konzert „Wien 1683“. Rechts auf der Bühne die Türken – links die Wiener und mittendrin: Michael Dangl.

Der mittlerweile für seine vielen Rezitationskonzerte bekannte Schauspieler führte das Publikum zwischen den einzelnen, musikalischen Stücken zurück ins Jahr 1683. Damals belagerten die Türken Wien bereits zum zweiten Mal – erfolglos, wie die Geschichte zeigte. Aber mit hohen und grausamen Verlusten auf beiden Seiten.

Mit dem Armonico Tributo unter der Leitung von Lorenz Duftschmid und der „Saraband“, der Vladimir Ivanoff vorstand, „kämpften“ zwei Spitzenensembles um die Gunst des Publikums und zeigten auf, wie groß der kulturelle Unterschied auch in der Musik zwischen Orient und Okzident war – und teilweise bis heute auch noch ist.

Das mit europäischen Instrumenten bestückte 12-köpfige Duftschmid-Ensemble (Streichinstrumente, Flöte, Trompeten,  Barockgitarre und Perkussion) stand einem Quintett gegenüber, das mit einer Nay (Rohrflöte), einer Kemençe (Kastenhalslaute), einer Kanun (Kastenzither), Rahmentrommeln und einer Oud (Kurzhalslaute) ausgestattet war.

Der syrische Musiker Rebal Alkhodari spielte Letztere nicht nur, sondern setzte dem musikalischen Geschehen auch arabische Gesangsglanzlichter auf. Dabei wechselte er nahtlos von der Brust- in die Kopfstimme, in welcher er jene unzähligen Arabesken mit Leichtigkeit wiedergab, die diese Musik so unverwechselbar macht und auszeichnet. Zwischenapplaus nach jeder Darbietung machte klar, wie sehr das Publikum seine Auftritte zu schätzen wusste. Als herausragend im Armonico Tributo Ensemble ist Michael Oman zu nennen, dessen Blockflötenspiel nicht nur virtuos, sondern höchst lebendig und mitreißend war. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass die österreichische, musikalische Abordnung auf der Bühne der „orientalischen“ zahlenmäßig überlegen war. 

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„Wien 1683“ (Foto: Werner Kmetitsch)

Die gekonnte Stückauswahl von Komponisten wie Johann Heinrich Schmelzer, Heinrich Ignaz Franz Biber, Johann Josef Fux, Gazi Giray Han, Ali Ufki und vielen anonym überlieferten Werken aus dem osmanischen Raum pendelte zwischen barocker Fröhlichkeit, kriegerischen Drohgebärden, mittelalterlich nachklingenden Tänzen, Hymnen für den „Propheten Mohamad“, einem barocken Lamento, einem religiösen Klagelied, innig von Alkhodari vorgetragen und vielen anderen mehr.

Das unglaublich breite, musikalische Spektrum, das dadurch abgebildet wurde, zeigte auch gut auf, dass das Abend- und das Morgenland zu dieser Zeit Musik in gänzlich unterschiedlichen Kontexten verwendete. Waren es in unseren Breiten die kaiserlichen und königlichen Höfe, so wurde Musik bei den Osmanen und darüber im arabischen Raum neben Tanzeinlagen zwar auch an den Höfen dargeboten, diente aber nicht der jeweiligen Herrscherverherrlichung, sondern jener Allahs oder seines Propheten. 

Neben all dem prächtigen Ohrenschmaus bekam das Publikum einen höchst anschaulichen Geschichtsunterricht gratis dazugeliefert. Michael Dangls Lesungen aus historischen Überlieferungen benannte nicht nur Zahlen und Fakten, sondern machte die Angst und das Leid, die Feigheit der Herrscher, sowie die Tapferkeit der Bevölkerung und Soldaten emotional nachvollziehbar. Eine kluge, dramaturgische Volte beendete den Abend.

Mit ihr wurde subtil klar gemacht, dass alle Menschen, die auf dieser Welt leben, egal aus welchem Kulturkreis sie auch sind, derselben Conditio humana ausgeliefert sind und sich in der Geburt, dem Tod und dem Vergessen in nichts unterscheiden,  Mit den „Gedanken über die Zeit“ von Paul Fleming (1609-1640) befriedete Dangl den Abend, ohne Sieger oder Besiegte hervorzuheben, zu preisen oder zu verdammen. Eine feinsinnige und noble Geste und nicht zuletzt eine Referenz den Musikern der Saraband gegenüber, die nicht aus dem Reich des „Goldenen Apfels“ stammen, wie die Türken Österreich nannten. 

 

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„Wien 1683“ (Foto: Werner Kmetitsch)

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