Liebespoesie ohne Worte

Liebespoesie ohne Worte

Raimund Hoghe & Takshi Ueno

Raimund Hoghe & Takshi Ueno „Pas de Deux“ im Tanzquartier in Wien (c) Rosa-Frank.com

Eine minimalistische Bühne ohne jede Kulisse und ohne Videoproduktion. Nur der nackte Bühnenboden und schwarze, ihn einfassende Wände. Mehr braucht es nicht für das neue Stück von Raimund Hoghe. Oder doch: dazu kommen noch jede Menge Ohrenschmeichler quer durch die Musikgeschichte von Bach bis  Edith Piaf, die den Abend in einen ganz besonderen, samtigen Gefühlszustand packen. „Pas de Deux“ – in diesem Titel ist das 2stündige Geschehen tatsächlich komprimiert, und beschreibt in aller Kürze dieses Tanzstück für zwei Personen. Wobei „Tanz“ bei Raimund Hoghe eine individuelle Interpretation erfährt. Der charismatische Deutsche, der durch eine Verkrümmung der Wirbelsäule alles andere als ein tänzerisches Schönheitsideal verkörpert und sein Partner, der junge, athletische Takashi Ueno zeigen darin in einer auf ein Minimum reduzierten Choreografie, was eine Liebesbeziehung zweier Menschen bei diesen bewirken kann. Wo sie Freiräume bietet, wo Begrenzungen bestehen und auch, wo von ihr nichts als Erinnerungen bleiben.

Dabei sind es gerade jene Momente, in welchen das Geschehen beinahe zum Erliegen kommt, die unter die Haut gehen. Momente der kleinen Gesten – wie etwa jene, in welchen die beiden hintereinander nur einen Arm heben und senken und dabei einzig ihre Hände sprechen lassen. Oder jene, in welchen sie abwechselnd den Kopf auf die Brust des anderen legen – ein Ausdruck, in dem die Suche nach dem anderen aber auch die Hingabe an diesen und die absolute Vertrautheit deutlich wird. So einfache Bewegungen wie diese sind es, die den Abend ereignisreich erscheinen lassen, weil sie absolute Aufmerksamkeit vom Publikum einfordern. Aufmerksamkeit auf das Wesentliche, auf die Gefühle der Tänzer, die sich aber rasch unweigerlich im eigenen emotionalen Erfahrungsschatz widerspiegeln.

Wie auch jenes Gefühl der euphorischen Verliebtheit – in der man Bäume ausreißen könnte oder Luftsprünge machen. So wie es Takashi Ueno tatsächlich vorzeigt. Begleitet nur von kleinen, aufmunternden Hand- und Kopfbewegungen seines Partners, umkreist er diesen im schnellen Laufschritt und macht dabei immer wieder meisterhafte Sprünge, in deren Posen er in der Luft für Bruchteile von Sekunden zu gefrieren scheint. Dieses scheinbare Außerkraftsetzen der Naturgesetze ist nur in jenem Rausch erlebbar, den man absolute Verliebtheit nennt und alle, die dies in ihrem Leben erfahren durften, können sich an diese außergewöhnlichen Emotionen ihr Leben lang erinnern. Meisterlich, wie Hoghe dies mit seiner Choreografie aus den Tiefen des Gefühlsschatzes der ZuseherInnen hervorholen kann.

Dem Choreografen und Tänzer geht es aber nicht um die einseitige Darstellung einer Beziehung zwischen zwei Männern. Vielmehr schlüpfen diese in verschiedene Rollen – auch von Frauen unterschiedlichen Alters und überschreiten auch kulturelle Grenzen. Ihre Schuhe – japanische Getas – verweisen über lange Strecken zwar auf eine asiatische, genauer gesagt japanische Determination – nicht von ungefähr, aufgrund Takashi Uenos Abstammung. Im Epilog, der gekonnt als solcher nach einer Abschlussszene das Publikum noch einmal überrascht, agieren sie jedoch mit goldenen und roten Schärpen als kirchliche Würdenträger und schließen damit den Kreis der menschlichen Emotionen einmal rund um den Erdball. Liebe ist universell und – zumindest bei Hoghe – letzendlich auch geheiligt. Wenn diese noch dazu mit Ritualen einen äußerlich sichtbaren Ausdruck erfahren, wird Liebe in eine Transzendenz eingeschrieben, die extrem berührt.

Selbst wenn von ihr nichts mehr bleibt als die Erinnerung, die Raimund Hoghe als Tanzvideo in seinen Aktenkoffer steckt und wegträgt, oder die Takashi Ueno in athletischen Sitzfiguren mit großer Wehmut zum Ausdruck bringt, selbst dann, wirkt sie in den Menschen weiter. Nicht nur in deren Gedanken, sondern auch in deren körperlichem Ausdruck. Sosehr sich Hoghe und Ueno in ihrem Pas de deux ausleben – bis hin zu einer wunderbaren Passage, in welcher der junge Japaner seinen um so viele Jahre älteren Gefährten in vielen klassischen Hebefiguren schweben lässt – neben all dieser privaten Befindlichkeit fehlt in diesem Stück auch ein gesellschaftspolitischer Ansatz nicht. Den kurzen Texten zu den atomaren Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts, angefangen von den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki bis hin zu den Supergaus in Tschernobyl und Fukushima, folgt eine Passage, in welcher der um einiges kleinere Hoghe seinen körperlich wesentlich stabileren Partner Schritt für Schritt in gewundenen, langen Bahnen über die Bühne führt. Das Dasein für einen anderen, die Hilfe, ausgedrückt in einer körperlichen Unterstützung wird dann zu einem Thema, wenn die Gesellschaft überfordert ist und versagt. Glücklich, wer in solchen Momenten oder gar Zeiten jemanden an seiner Seite weiß. Dass Raimund Hoghe in diesem Stück auch Luca Giacomo Schulte, seinen langjährigen Kompagnon und künstlerischen Berater bedenkt, indem er ihn kurz mit zwei blutroten Blumensträußen auftreten lässt, die er den Tänzern überreicht, passt in dieses Liebes- und Freundschaftsverständnis.

Ein Abend, der berührt und zugleich die Sensibilität dafür wieder weckt, sein Gegenüber in seinem körperlichen Ausdruck feinfühliger wahrzunehmen und seine eigenen partnerschaftlichen Körpermuster zu entdecken.

Der unsoziale Tod des Jedermann

Der unsoziale Tod des Jedermann

Tempo, Tempo, Tempo – seine Zeit läuft ab! Noch hat er nur mehr 1 Stunde und 27 Minuten zu leben, verkündet der Lebensrestzeitoptimator vom Bildschirm, der in der linken oberen Bühnenecke platziert ist. Petra Strasser unterhält in ihrer Rolle als coole und völlig unverbindliche TV-Sprecherin, die die Restlebenszeit von Jedermann anzusagen hat, an diesem Abend noch durch weitere Moderationsaufgaben. Und noch sieht es gar nicht danach aus, als ob der schmierige Investmentanker Jedermann mit seinem Todeseinverständnis die Welt retten würde. Dieses muss Gottfried Neuner in der Rolle des abgehobenen und um sein Leben besorgten Widerlings nämlich dem Gevatter Tod abgeben. Tut er es nicht, droht die Apokalypse, wie von Johannes vorausgesagt.

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„Letzter Aufruf Jedermann“ ist eine rasante Neuinszenierung des Jedermanns im TAG in Wien. (Foto: (c)Anna Stöcher)

Marc Pommerening hat in seinem Stück „Letzter Aufruf Jedermann“eine rasante Neuinszenierung des Hofmannsthal´schen Klassikers gewagt und dabei nicht davor zurückgescheut, zumindest zeitweilig in dessen Versmas einzutauchen, was der Sprache trotz aller aktueller Bezüge eine gewisse Antiquiertheit verleiht. Zugleich erreicht er damit auch ein Abrücken des Publikums von der darin verpackten Aktualität, sodass es möglich wird aus dem Theaterstuhl wie aus der Zukunft auf das derzeitige Treiben der Finanzhaie zurückzuschauen. Ein kluger Schachzug, der einen großen Gedankenspielraum möglich macht. Natürlich wird dabei die aktuelle Finanzmarktsituation kritisch beleuchtet. Nicht nur in der Person des Jedermann und dessen Gesell (Clemens Berndorff) selbst, die in ihrem Büro mit Weitblick fern ab von jeder Realität der Massen skrupellose Transaktionen durchführen. Es bekommen auch die „Empörten“ (Stépahne Hessel hätte seine Freude!) ihr Fett ab. Jene, die man nach dem Kopf des „Everyman“ – ein nicht unwillkommenes Wortspiel wohl auf die nicht aus den negativen Schlagzeilen rutschende Goldman Sachs Investmentbank – rufen hört, immer wenn dieser die weißen Lamellenvorhänge im letzten Stock des Hochhauses, gebaut aus Stahl, Glas und Marmor, zurückschiebt. Ungeachtet ihres antikapitalistischen Treibens fallen sie über die von Jedermann aus der Höhe auf sie herab geworfenen Geldscheine her und bekräftigen zumindest für kurze Zeit dessen Vorstellungen vom alles regierenden Kapital. Aber die Art und Weise wie diese Kritik sonst noch verpackt ist, verschlägt einem schier den Atem. Denn es darf gelacht werden und zwar nicht zu knapp. Sei es über den ungeschickten Tod selbst, der sich von Jedermann überreden lässt es einmal als Lebender so richtig krachen zu lassen und dabei in einen irrwitzigen Konsumrausch verfällt – sei es beim finalen Bankett, zu dem Jedermann von seinem Adlatus seine Freunde kurzfristig einladen ließ. Aufgrund der absoluten Absenz auch nur eines Gastes schlüpft Clemens Berndorff als willfähriger und untergebener Gesell ganz im Stile des großen britischen Vorbildes „Dinner for one“ in Freddie Frintons Paraderolle und stößt zum letzten Mal in unterschiedlichen Rollen auf Jedermanns Wohl an. Wunderbar, wie er genauso gekonnt wie sein längst verstorbener Kollege Frinton lautstark stolpert. Zwar nicht wie dieser über einen Tigerkopf, sondern über die Bühnentreppe im Hintergrund. Der Lacheffekt ist aber der gleiche. Doch dies ist nicht das einzige TV-Zitat, das an diesem Abend besticht. Alexander Jagsch, der als urkomischer und etwas langsam denkender Tod verzweifelt versucht jene Fliege wieder zum Leben zu erwecken, die Jedermann mit einem Stich die tödliche Blutvergiftung beschert hat, erinnert darin an Rowan Atkinsons Mr. Bean Rolle, in der dieser gerne seinen geliebten Teddy beschwört.

Julia Schranz brilliert an diesem Abend gleich in drei unterschiedlichen Rollen. Als Engel Abramael, als kapitalismuskritische junge Demonstrantin und als Mutter von Jedermann, die aufgrund seiner Bezwingung des Todes als Untote aus dem Grab wieder aufersteht. Ihr ist in jeder dieser Rollen ein wahres Textfeuerwerk zugeordnet, das sie mit Bravour und völlig unterschiedlichen Rollenansätzen bewundernswert meistert. Dass sie eigentlich die Gegenspielerin zu Gesell darstellt – dieser Hintergrund wird im letzten Teil des Stückes erleuchtet. Und auch der Showdown, den es im wahrsten Sinne des Wortes gibt, soll hier nicht näher besprochen werden. Lebt das Stück doch auch über weite Teile von Überraschungen, die es in Überfülle gibt.
Die Inszenierung von Christian Himmelbauer lenkt nicht vom komplexen Textkonstrukt ab, geizt aber auch nicht mit auditiven und optischen Effekten und spart nicht an moderner Soundtechnik. So gestaltet sich auch der einzige größere Bühnenumbau kurzweilig durch die Playbacknummer von Petra Strasser, die abermals über den Bildschirm das Publikum mit ihrer Interpretation von „Skyfall“ unterhält, jenem James Bond Hit, der derzeit die Radiosender weltweit beherrscht.

Dass Jedermann sein Ende ganz entgegen den vorgegebenen göttlichen Spielregeln anders bestimmt und völlig „unsozial stirbt“, der Tod in Mitleid zerfließt, dass die Apokalypse wohl von einem Typen geschrieben wurde, der völlig stoned war und niemals stattfinden wird, ist nur der vordergründige Schluss des Stückes. Denn gerade das Nicht-Stattfinden der Apokalypse ist die Tragik dieser, unserer Welt. So wird es zumindest am Ende im Abgang Abramaels, begleitet von einem kurzen Posaunenstoß – der aber eher einem milden Alphornton ähnelte, verkündet.

Brillante Unterhaltung und eine nachhaltige Denksportaufgabe zugleich, ein rabenschwarzer Text gewürzt mit intelligenten Lachnummern – „Letzer Aufruf Jedermann“ ist einfach sehenswert!

Ein kleines Stück vom familiären Nicht-Glück

Ein kleines Stück vom familiären Nicht-Glück

Im Schauspielhaus in Wien erlebte vor wenigen Tagen ein Stück der jungen Autorin und Regisseurin Anne Habermehl seine Uraufführung. „Luft aus Stein“ – so der Titel, spielt über 4 Familiengenerationen und kommt mit einem einzigen Bühnenbild (Christoph Rufer) aus. Eine in strenger Zentralperspektive sich ins Bühnentief verjüngende Fahrbahn, links und rechts ohne weitere Attribute nicht lokal zuzuordnen, strömt sie jene Kälte aus, mit welcher alle ProtagonistInnen im Stück zu kämpfen haben. Habermehl gibt dabei in zeitlich unterschiedlich angeordneten kleinen Szenen Einblick in Momentaufnahmen, in welchen sich das Schicksal der jeweiligen Generation entscheidet. Wie ein Puzzle fügt sich eine Szene an die nächste und erst zum Schluss wird klar, dass es kein Liebespaar ist, das sich gleich zu Beginn wie nach einer längeren Trennung wieder getroffen hat. Es sind Bruder und Schwester, die sich inzestuös liebten und deren Beziehung durch einen Unfall, bei dem das Mädchen Paula so schwer verletzt worden war, dass sie ihr Sprachvermögen verloren hat, neu aufgesetzt wurde.

Max Mayer und Franziska Hackl in der Uraufführung von "Luft aus Stein" © Antoine Turillon / Schauspielhaus

Max Mayer und Franziska Hackl in der Uraufführung von „Luft aus Stein“ © Antoine Turillon / Schauspielhaus

In Habermehls Familien sind es in drei Generationen Geschwisterpaare, die ihre Liebe zueinander schwer oder gar nicht ausleben können. Ob durch Gewalt daran gehindert wie es der Bruder von Ruth erleben muss, der seine Schwester vor einer unglücklichen Ehe bewahren möchte; ob durch frühen Tod voneinander getrennt, so wie dies Hanna erlitt, die als Kleinkind ihren Bruder im Krieg verlor oder schließlich, wie schon erwähnt, Paula und Anton, die nach einer innigen Liebesbeziehung brutal auseinandergerissen werden. Die Brüder selbst sind bei Habermehl die Schwächeren. Sie hängen einer Liebesillusion nach, die das reale Leben einfach überrollt. Die Frauen hingegen, vor allem auch die Mütter, erkennen rasch, dass emotionale Hochgefühle unter bestimmten Voraussetzungen nicht von Dauer sind und fügen sich in ein Leben, das sie sich zwar anders gewünscht haben, dem sie sich jedoch dennoch in der neuen Realität auch nicht verweigern.

So tragisch die einzelnen Lebensläufe auch erscheinen – die Autorin spart dennoch einige Spaßmomente nicht aus. Wie zum Beispiel jenen, in welchem Ruth (Franziska Hackl) in einem Hotelzimmer an der Seite ihres geliebten Arztes (Max Mayer) aufwacht und ihm innerhalb weniger Minuten erklärt, dass sie nach dieser ersten Liebesnacht ganz sicher schwanger sei. Ihre überschäumende Lebenslust und ihre verrückten Ideen stecken ihren Liebhaber derart an, dass dieser telefonisch ein Frühstücksservice bestellt, bei welchem der Kellner unbekleidet erscheinen möge. Max Mayer lässt es sich auch in der Rolle des Arztes von Paula nicht nehmen, sein komödiantisches Talent wieder einmal auszuspielen, indem er ihr ein Geschenkpäckchen auf ganz ungewöhnliche Art und Weise präsentiert. Hinter seinem Rücken verborgen, geht er in eine tiefe Hocke, um schließlich die eingepackte Schachtel zwischen seinen Beinen seiner Geliebten hinzuschieben. Der Mann als Liebhaber kommt bei Habermehl in allen Generationen vor, jener des Vaters jedoch nicht.

Die Absenz der Väter – die sich durch alle Generationen zieht – rächt sich zum Schluss wohl am bittersten. „Jemand hat mich betrogen und ich weiß nicht wer“, erklärt Anton, durchdrungen von Hassgefühlen. Für ihn gab es kein männliches Gegenüber, an dem er sich reiben hätte können und das es ihm ermöglicht hätte, über es hinauszuwachsen. Die unglückliche Liebe zu seiner Schwester, die von der Gesellschaft nicht toleriert wird, tut ein Übriges, um sich ausgeschlossen und alleine zu fühlen. Gideon Maoz pendelt in der Rolle zwischen Selbstmitleid und unkontrollierten Aggressionen. Sosehr Paula sich zu ihrem Bruder auch nach ihrer Rekonvaleszenz noch hingezogen fühlt ist doch sie es, die den Absprung schafft und versucht, ein eigenständiges Leben zu beginnen. Ihre Beschreibung der Gefühle, die sie nach ihrem Unfall hatte, als sie ans Bett gefesselt war und die Sprache neu erlernen musste gehört zu den eindrucksvollsten Textstellen des Abends. „Der Himmel ist aus Stein, die Luft ist aus Stein, mein Mund ist aus Stein“ so fasst sie jene Zeit zusammen, in der sie sprachlos ans Bett gefesselt war.

Katja Jung und Franziska Hackl, jeweils in 3 unterschiedlichen Frauenrollen zu sehen, gelingt das Kunststück, deren unterschiedliche Charaktere plausibel zu verkörpern, wobei die Figur der Ruth sowohl als junge Frau verkörpert durch Franziska Hackl als auch als ältere, die ihre Tochter nicht loslassen kann, interpretiert durch Katja Jung, am prägnantesten gezeichnet wird. Ihre Feststellung, dass die Leute in eine Kirche rennen, in der es keinen Gott mehr gibt, speist sich offenbar nicht aus der Philosophie ihrer Generation, sondern aus ihren Kriegserfahrungen.

Habermehls Figuren schreien sprachlos nach Liebe und Geborgenheit, die sie jedoch nicht finden. Was bleibt, ist die eigene psychische oder physische Zerstörung wie bei Ruth, die sich zu Tode raucht oder Max, dem Arzt, der im Krieg seine sprachliche Ausdruckskraft verliert und stattdessen seine Eindrücke an seine Mitmenschen nur mehr mit selbst geschossenen Fotos zu vermitteln versucht. Warum sie so geworden sind, wie sie sind, kann sich einzig auszugshaft dem Publikum erschließen, dem Individuum selbst, bleiben diese Erkenntnisse jedoch verborgen.

Ein dunkles Stück, das jedoch durch den Wunsch und der permanenten Sehnsucht nach Liebe dennoch wärmt.

Anna Karenina  – weitergedacht

Anna Karenina – weitergedacht

v.l.: Roman Schmelzer, Martina Stilp © Christoph Sebastian

v.l.: Roman Schmelzer, Martina Stilp – © Christoph Sebastian

Anna Karenina stirbt ihren vorprogrammierten Tod und wirft sich, wie Leo Tolstoi es in seinem Roman vorgesehen hat, vor den Zug. Davon ist im Volkstheater in Wien aber nichts zu sehen. Der Vorfall wird einzig in zwei knappen Sätzen von Anna Karenina selbst kommentiert – ganz so, wie der Schriftsteller dies in seinem Monumentalwerk auch getan hat. Das Vor-den-Zug-Werfen wird auf der Bühne aber als Entschlafen im Stehen umgesetzt – zurück bleibt keine blutig zerstückelte Leiche, sondern das Bild einer schönen, empfindsamen Frau in Denkmalpose. Dass sich danach aber weitere Dramen ereignen, dafür ist eine textliche Neufassung verantwortlich. Armin Petras schuf eine 2 Stunden und 15 Minuten-Version. Schon einmal ist er tief in den Stoff eingetaucht – nämlich als Regisseur. 2008 erlebte Anna Karenina als Produktion des Maxim-Gorki-Theaters unter ihm seine Uraufführung. Dieses Mal zeichnete Stephan Müller, der hier am Volkstheater schon Clavigo, Antigone und Don Juan inszenierte, für die Regie verantwortlich. Armin Petras kürzte und verdichtete den Stoff auf die drei Ehepaare – deren Krisen Tolstoi als Anlass nahm, um über Liebe und Moral nachzudenken. So kommt es durch die Kombination von Autor und Regisseur dazu, dass die Demonstration großer Gefühle im Zeitraffer ohne jegliches Pathos dem Abend seine Stärke verleiht. Petras reichte jedoch Tolstois Finale nicht. Ganz systemisch denkendes Individuum unserer Zeit überlegte er, welche Konsequenzen der Tod Anna Kareninas wohl in ihrer Familie noch haben könnte. Und kam dabei zu einer dramatischen Schlussfolgerung.

Hyun Chu taucht die Bühne in ein sattes Rot, das sowohl die Plüsch-betonten Salons der Tolstoi-Zeit, als auch das Feuer der Liebe und nicht zuletzt jenes des Eros symbolisieren. Zwei große, verschiebbare Wände – farblich kontrastierend in kühlem Grau-Blau gehalten – werden immer dann kurz eingeschoben, wenn es gilt, drastische Ortswechsel zu markieren. Die zu Beginn sehr humorvolle Inszenierung verdüstert sich, dem Drama geschuldet, im Laufe der Zeit zusehends. Und dennoch wartet der Abend auch mit einer großen Portion Humor auf. Till Firit als tölpelhafter, ruraler Gutsbesitzer Lewin und Kitty, seine zukünftige Frau (Hanna Binder), agieren mit ihrem Text als Stück im Stück wie in einer Dauerkomödie und reißen das Publikum zu vielen Lachern hin. Ganz einmalig dabei die Szene, in welcher sie nach dem ersten großen Liebesablehnungsdesaster wieder zueinanderfinden. Wie Schulkinder befangen, kritzeln sie auf den ersten Blick sinnlose Buchstabenketten mit Kreide auf die Wand hinter ihnen und erklären danach, welche Sätze sich hinter diesen Anfangsbuchstaben verbergen. Es sind die wichtigsten in ihrem Leben, die sie jedoch durch diese humorvollen Übersprungshandlungen mit so viel Witz versehen, dass gar keine großen Grübeleien oder Peinlichkeiten aufkommen. Hanna Binder als energiegeladener Trotzkopf erhält vom Publikum alle Sympathien und mimt glaubhaft die junge Kitty, die nach ihrer ersten Liebesdepression nichts lieber tut als sich in eine Ehe zu stürzen, um den Zwängen in ihrem Elternhaus zu entkommen. Pudding essen soviel sie will und nackt auf dem Balkon sitzen, das ist ihr Ziel, dem sie mit der Hochzeit ein ganzes Stück näher rückt. Dass ihre Ehekrise – so wie die der anderen – schon vorprogrammiert ist, wird nicht nur in einem kurzen Bekenntnis ihrerseits klar, das sie, während sie zum Altar schreitet, dem Publikum mitteilt. Sie ist es, die die Hosen anhaben wird erklärt sie dabei zischelnd, sodass ihr Bräutigam nichts davon zu hören bekommt und hebelt damit jede romantische Eheidee ad hoc aus. So linkisch und unsicher Lewin über den Großteil der Zeit erscheint, so scharfsinnig erkennt er aber auch nicht nur seine Nachteile, sondern auch die charakterlichen Schwächen von Dascha, Kittys Schwester, die bei Tolstoi Dolly genannt wird. Sie hat sich nach all den Seitensprüngen ihres Mannes Stefan in den Trost der Religion geflüchtet und möchte diese nun missionarisch allen Zweifelnden in ihrer Umgebung überstülpen. Susa Meyer verwandelt sich an diesem Abend bewundernswert von einer hassenden und doch liebestrunkenen Ehefrau zu einer rigiden Persönlichkeit, mit der ihr Mann (Patrick O.Beck) seine Ehe weiter aufrechterhalten kann. Beck verleiht dem Charakter tatsächlich jene glatte Harmlosigkeit, mit der es ihm gelingt, unbeschadet alle Höhen und tiefen der Liebe zu überstehen und niemals in die Tiefen der weiblichen Seele zu blicken.

Von den beiden großen Rivalen – Karenin, dem Ehemann Annas und Wronski, ihrem Geliebten, ist es der Erstere, der in der Inszenierung besonders scharf psychologisch analysiert und herausgearbeitet wird. Hin- und hergerissen zwischen Liebe und gesellschaftlich erwünschtem Lebensentwurf ist er ein Gefangener seiner Unfähigkeit, Emotionen zu zeigen. Doch trotz all seiner Grobheiten, die seine Frau permanent verletzen und auch ihn selbst kein wirkliches Lebensglück erleben lassen, kommen ihm am Ende bittere Zweifel ob seines Handelns. Der Vergleich mit einem Bauern, der aus einem vollen Sack Getreide einen Anteil stehlen möchte, und in der Hast und Eile ein Kätzchen dabei in Stücke reißt, macht klar, dass seine Liebe nur ein Nehmen war, welches seine Frau in letzter Konsequenz zerstörte. Michael Wenninger geht in dieser Rolle großartig an der Grenze der Tragikkomik spazieren und fesselt dennoch in einigen Momenten durch tiefe Emotionalität. Martina Stilp als Anna Karenina, nach ihrem Ehebruch und bei Petras Neuinterpretation nach einer Totgeburt dem Morphium verfallen, verwandelt sich ebenso wie ihre Schwägerin Dascha dramatisch. Sie jedoch erlebt eine ganz andere Wandlung, weg von der duldenden Frau hin zu einer selbstbewussten, keine Aussprachen scheuenden und alle Konventionen über Bord werfenden. Dennoch zerbricht sie an ihren selbst gewählten Schicksal. Ihre Haartracht, eingangs brav in Wasserwellen gelegt, danach mit frechem Pagenschnitt versehen und die Verwandlung ihres Kleides – zuerst hochgeschlossen und danach kess schulterfrei – spiegeln ihre eigene Charakteränderung wider. Der Schmerzmittelmissbrauch und die Gewissensbisse ihren geliebten Sohn verlassen zu haben, nagen an ihrer Psyche und bearbeiten sie so, dass Schreiduelle mit ihrem Geliebten und permanente Eifersuchtsszenen ein harmonisches Zusammenleben unmöglich machen. Martina Stilp spielt dabei scheinbar mühelos auf einer reichhaltigen Emotionsklaviatur und wird besonders dort authentisch, wo sie sich selbst als emanzipierte Frau erkennt, die dennoch der Unterordnung unter ihre Männer nicht entkommt. Roman Schmelzer als Wronski, dem relativ bald bewusst wird, dass die Liebe sich rasch wandelt und nichts so bleibt, wie es die Hoffnung vorgaukelte, kann seiner Geliebten Anna emotional nichts entgegensetzen. Er ist aber nicht der Einzige, den ihr Freitod trifft. Nachdem der letzte Satz erklungen, erhebt Karenin eine Waffe gegen seinen eigenen Sohn – Alexander Mayer agiert mit seinen 12 Jahren völlig stressfrei – und nur das abrupte Verlöschen des Lichtes erspart dem Publikum die Fortführung dieses Familiendramas. Eines Dramas, das wir beinahe wöchentlich in der Zeitung nachlesen können. Dann nämlich, wenn betrogene oder verlassene Ehemänner sich nicht scheuen, ihre Kinder und auch sich selbst auszulöschen. Wie Karenin sind es meist Männer, die ihren Schmerz nicht zeigen können, der sie aber in ihrem Inneren so zerstört, dass sie die scheinbare Ausweglosigkeit ihrer Situation nur mit Gewalt lösen können. Verstört lässt dieser Schluss jene zurück, die Tolstois Ende erwartet haben. Jene, für die der Stoff jedoch Neuland ist oder die sich auf das Wagnis des Weiterdenkens einlassen, dürfte die Akzeptanz für das Finale aufgrund der inneren Logik der Gestalt des betrogenen Ehemannes wahrscheinlich keine Mühe bereiten. Zurück bleibt das Gefühl, dass Liebe nur dann überlebt werden kann, wenn man sich von ihr rechtzeitig distanziert oder das Glück hat, sie nie wirklich kennengelernt zu haben.

Das Kapital spricht nicht

Das Kapital spricht nicht

Zwei junge Männer und eine junge Frau sitzen am Tisch und beenden vergnüglich ihr Essen. Währenddessen nimmt das Publikum auf seinen Sitzen Platz und fühlt sich, als sei es Teil dieser Abendeinladung. Noch einmal wird es im Verlaufe der Vorstellung Teil des Geschehens sein – sich dann allerdings in einer wesentlich ungemütlicheren Position befinden.

Ein Volksfeind von Henrik Ibsen auf der Bühne des Theaters Spielraum in Wien (c)-Barbara Pálffy

„Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen auf der Bühne des Theaters Spielraum in Wien (c)-Barbara Pálffy

Aus dem wie immer höchst informativen Programmheft des Theater Spielraum entnimmt man, dass das derzeit gespielte Stück „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen allein in Deutschland in diesem Jahr auf 10 Bühnen aufgeführt wurde. Es ist somit kein Stück, das in den Schubladen der Intendanten verschimmelt, sondern soeben eine Renaissance erlebt. Der Grund liegt auf der Hand. Ibsens Stück ist in seiner Thematik derart aktuell, dass es eins zu eins übernommen werden könnte und passgenau unsere heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt. Und das, obwohl es in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts seine Uraufführung erlebte. Für die Produktion im Theater in der Kaiserstraße hat sich Gerhard Werdeker jedoch eines kleinen Kunstgriffes bedient. Er legte den Charakteren eine zeitgeistige Sprachregelung in den Mund bei der „Nachhaltigkeit“, „Konsensorientierung“ oder „mündige Bürger“ als stehende Begriffe verwendet werden. Und er verjüngt die ProtagonistInnen um eine Generation und stellt damit eine junge Familie ins Spannungsfeld zwischen Eigen- und Gemeinwohl. Ibsen beschreibt in seinem Stück, wie ein kritischer Arzt, der den Kurbetrieb einer florierenden Badeanstalt leitet, durch die Aufdeckung des Umstandes, dass das Wasser gesundheitsgefährdend ist, vom handsamen Bürger zum verhassten Volksfeind mutiert.

Der junge Dr. Thomas Stockmann – plausibel und mit Herzblut von Christian Kohlhofer gespielt – begeht mit seiner Frau Katharina, seinen vermeintlichen Freunden – Hovstad, dem Redakteur der Stadtzeitung und Billing, einem Mitarbeiter derselben – einen gewaltigen Fehler. Nachdem der junge Arzt die verheerenden Probenanalysen des Wassers schwarz auf weiß in Händen hat, ist er der Meinung, mit der Veröffentlichung derselben seiner Gemeinde einen großen Gefallen zu tun. Seine Frau und die Freunde feiern den heldenhaften Arzt bereits als Retter der Stadt und malen sich schon aus, wie man ihm dafür danken würde. Keiner von ihnen hat jedoch auch nur einen Funken politische Erfahrung oder ein klein wenig macchiavellisches Denkvermögen. Und gerade dieser Umstand bringt Dr. Stockmann und seine Frau an den Rand ihrer gesicherten Existenz.

Sein Gegenspieler Peter – zugleich auch sein Bruder – agiert als Stadtrat und erkennt sofort die Brisanz dieses Papieres. Ihm wird in Sekundenschnelle klar, dass sein Posten wackelt, wenn die Stadt finanziell für die Schadensbehebung aufkommen muss, und setzt alles daran, dass diese Tatsachen nicht bekannt werden. Daniel Ruben Rüb als glatzköpfiger, aber sehr smarter Politiker, der gewohnt ist, Hände des Stimmvolkes zu schütteln und dabei ein freundliches Gesicht zu machen, scheut sich nicht, eine Volksversammlung agitatorisch mit Mitstreitern zu besetzen, um seinen Bruder mundtot zu machen. Und diese Szene ist es, die richtig unter die Haut geht. Denn Thomas erkennt zwar rasch, dass er auch mithilfe von Aslaksen, dem Herausgeber der Stadtzeitung, der nie müde wird, sich als konsensorientiertes Mitglied des Hausbesitzerverbandes darzustellen und seine Fahne in den jeweiligen Wind zu hängen weiß, mundtot gemacht werden soll. Es fehlt ihm jedoch die geschliffene Klinge einer Diplomatensprache, mit der er allenfalls das Ruder für sein Anliegen noch herumreißen hätte können. Ganz im Gegenteil wird er so emotional, dass seine furiose Ansprache zu einer Volks- respektive Publikumsbeschimpfung ausartet, bei der das Wort „Stimmvieh“ noch als eines der harmloseren fällt. Und tatsächlich hat in diesem Moment das Publikum seiner Rage nichts entgegenzusetzen. Niemand, der sich auf seine Seite schlägt und ihn verteidigt, niemand der auch nur im Geringsten seiner Empörung ob der Beschimpfung Ausdruck verleiht. Die schweigende Mehrheit, die Ibsen in diesem Stück so anprangerte, bleibt schweigsam und wird von dem jungen Dr. Stockmann folgerichtig als Übel einer nicht gut funktionierenden demokratischen Gesellschaft erkannt. Doch sind es nicht nur die wahrhaft Unmündigen, die eine Gesellschaft zum Wanken bringen. Die teuflische Kombination besteht aus ihnen, der an ihren Sessel klebenden PolitikerInnen und aus der Kumulierung des Kapitals. Ein Umstand, der mittlerweile – landauf und -ab als Marx´sche Prophetie ihre Erfüllung findet und die Menschen ratlos und schweigend zurücklässt.

Und auch hier traf Ibsen mit seinem Werk ins Schwarze des aktuellen Weltgeschehens. Morten Kiil, sowohl Fabriksbesitzer als auch Schwiegervater von Thomas Stockmann ist es, der sich eines mephistophelischen Schachzuges bedient um – und das ist wohl die Ironie der Geschichte – der jungen Familie doch noch eine finanzielle Lebensgrundlage zu bieten. Er verwendet seine finanziellen Rücklagen, die er für seine Tochter und deren Kinder verwenden wollte, und kauft die ins Bodenlose gefallenen Aktien der Kur- und Badeanstalt auf. Zwar ist es ihm bewusst, dass er damit seine Tochter und seinen Schwiegersohn in einen immensen Gewissenskonflikt bringt, aber er weiß um die Macht des Faktischen. Alexander E. Fennon, derzeit gefragter Filmschauspieler, hat nur wenige Sätze. Gekleidet in edlen Nadelstreif, ausgestattet mit exaktem Haarschnitt, reicht sein Auftreten, um die Bedrohung körperlich spürbar zu machen, die von seiner finanziellen Machtfülle ausgeht. Da kann die Politik Winkelzüge einfädeln wie sie will, die Presse vertuschen oder aufbauschen wie sie möchte – gegen sein Kapital werden alle handlungsunfähig. Anders als im Original bleibt der Ausgang des Geschehens bei der Wiener Fassung offen. Ein Ende, das unserer gesellschaftlichen Verfasstheit entspricht, über die niemand von uns derzeit Prognosen der weiteren Entwicklung abgeben kann.

Samantha Steppan, als junge Ehefrau, die zwischen der Loyalität zu ihrem Mann und der Zukunftsangst für ihr Kind steht, Peter Pausz und Stefan Kurt Reiter als journalistische Wendehälse sowie Klaus Schaurhofer in der Rolle des „konsensorientierten“ Herausgebers, dessen einziges herausragendes, positives Persönlichkeitsmerkmal in seinen knallroten Socken zu finden ist, formen jenes gesellschaftliche Umfeld, an dem exemplarisch die Mechanismen einer gesellschaftlichen Deformation weg von der Wahrheit hin zum vermeintlich Machbaren klar werden.

Die Art von Inszenierung hat sicherlich im Sinne der Mann- und Frauschaft um Gerhard Werdeker und Nicole Metzger, die für die Dramaturgie verantwortlich zeichnet dann ihr Ziel erreicht, wenn auch nur eine Einzige oder ein Einziger im Publikum in Zukunft aus der schweigenden Mehrheit heraustritt. Dabei wünsche ich dem Theater Spielraum, dass seine Arbeit nicht im übertragenen Hein´schen Sinne ein Eiapopeia des Theaterhimmels bleibt.

Zeitgenössisches mit versteckten historischen Wurzeln

Zeitgenössisches mit versteckten historischen Wurzeln

Das Odeon bot den idealen Rahmen für die Aufführung der Komposition „Construction in space“ für 4 Solistinnen, 4 Ensemblegruppen und Live-Elektronik von Olga Neuwirth. Die Dirigentin Sian Edwards leitete das wie immer beeindruckende Klangforum Wien, das diesmal in einer Aufstellung rund um das Publikum neue Klangerlebnisse ermöglichte.

Klangforum Wien im Odeon anlässlich von Wien Modern

Das Klangforum Wien unter Leitung von Sian Edwards bot ein Stück von Olga Neuwirth im Odeon anlässlich von Wien Modern ((c) Facebook Fanpage Wien Modern)

Ursprünglich als Filmmusik komponiert, modifizierte Neuwirth ihr Werk geringfügig und versah es mit einem neuen Titel, der auch eine ganze Werkserie von Naum Gabo bezeichnet. Ausgehend von Gabos Skulpturen, die in ihrer Entstehungszeit mit völlig neuen Materialen wie z.B. Plexiglas ausgestattet waren und oftmals das Element der Bewegung eingebaut hatten, erscheint das Werk bei Neuwirth als eines, das zuallererst den Raum akustisch neu definiert.

Dabei wechseln 2 ganz unterschiedliche Klangstrukturen beständig einander ab. Das Werk beginnt im Fortissimo und entwickelt einen deutlich hörbaren stampfenden und peitschenden 4/4 Rhythmus, der, so hat es den Anschein, von allen MusikerInnen gleichzeitig performt wird. Abgewechselt wird dieser furiose Einstieg schließlich von einer Art Schwebezustand, der vom Mischpult eingespielt wird, welches inmitten des Raumes – und somit auch inmitten des Publikums aufgestellt ist. 3 Tontechniker sind dort am Werk und erzeugen an ihren Reglern schon nach kurzer Zeit einen fast meditativen Klangraum, der in scharfem Kontrast zum Beginn des Stückes steht. Fast unmerklich schleicht sich jedoch wieder der hastende, energiegeladene Rhythmus ein, der anfangs zu hören war, um danach wieder von dem ruhig gegliederten Teil abgelöst zu werden. Was Neuwirth bei dieser Kompositionstechnik gelingt, ist, dass sie damit unseren Hörsinn – komplett hinters Licht führt. Denn es ist für das Publikum nur schwer, bis gar nicht zu erkennen, ob es gerade einer elektronischen Einspielung oder dem Liveact folgt – hätte es die Augen geschlossen. Allein die Bewegungen der Dirigentin sind ein untrügliches Zeichen für den Einsatz der Elektronik – dann nämlich hat sie nicht zu dirigieren, sondern nur den nächsten Einsatz abzuwarten und das tut sie bewegungslos. Der nächste Coup gelingt Neuwirth mit einer Wiederholung, die verblüffend zur Kenntnis genommen wird. In ihr wird deutlich, wie rasch unser Hören und unser Denken auf bereits einmal erfasste Klangeindrücke aber auch Geräuschszenarien reagiert, diese wiedererkennt und im Wiedererkennen auch neu bewertet. Zugleich aber drängt sich auch die Verbindung an historische Sonatensatzfolgen auf. Diese Form hätte man bis dahin nicht in Zusammenhang mit der dargebotenen Klangkulisse gebracht, was umso mehr überrascht. Ein langer Schlussteil, in welchem durch aufsteigende Tonreihen, die durch das ganze Ensemble laufen, gänzlich neue Klangfärbungen erzeugt werden, lässt das Stück beruhigend ausklingen.

Neuwirth schuf mit „Construction in space“ ein Werk, das Kopf und Emotion in sehr ausgewogener Weise anspricht und sicherlich nach mehrmaligem Hören noch weiterreichende Erkenntnisse verspricht. Sian Edwards führte bei der Wien Modern Aufführung nicht nur die MusikerInnen, sondern auch das Publikum gekonnt durch den Klangkosmos und beeindruckte mit ihrer fast schon beredten Performance, bei der man erkennen konnte, dass sie selbst tief in das Werk eingetaucht war.

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