Die Welt ist ein unfairer, wunderschöner Ort

Von Elisabeth Ritonja

„365 picture+“ (Foto: Reinhard Winkler)
17.
November 2017
„Dreihundertfünfundsechzig+“ ist ein subjektiv-objektiver Rückblick auf das Jahr 2016, nicht nur aus der Sicht der jungen Generation.
,Insgesamt 12 Jugendliche aus Wien, Graz und Linz arbeiteten an dem Text, für den sie 2016 ein Tagebuch führten und darin höchst Subjektives, aber auch Einträge zu weltpolitischen Ereignissen notierten. Die Regisseurin Claudia Seigmann verfasste gemeinsam mit Claudia Tondl (im writers-room-Einsatz auch bei der Seestadt-Saga des Schauspielhauses) die dramatische Fassung, bei der ein Chor mit acht jungen Menschen, sowie drei Schauspielerinnen und einem Schauspieler auf der Bühne des Dschungel Wien stehen.

Obwohl: „Die Bühne“ gibt es nicht, denn das Publikum nimmt auf Hockern dort Platz, wo normalerweise gespielt wird. Der Chor agiert entweder inmitten der Besucherinnen und Besucher, oder auf einem kleinen Podest an einer Seite, später auch auf den von den Sitzbänken leergeräumten Rängen.

Wen oder was hast du 2016 neu kennengelernt? Bei welchem sportlichen Ereignis hast du mitgefiebert? Wo warst du 2016 auf Urlaub? An welches Ereignis kannst du dich noch genau erinnern?

Schon im Foyer dürfen sich die in Gruppen eingeteilten Zuseherinnen und Zuseher anhand von Fragen auf Kärtchen selbst Gedanken machen, woran sie sich eigentlich erinnern und kommen darauf, dass das, was sie persönlich erlebt haben,  spontaner aus dem Gedächtnis abgerufen werden kann als durch Medienereignisse kommunizierte Vorkommnisse. Kurz darauf im Saal fühlt man sich ertappt, denn  kein einziges, vorgelesenes Datum ist in der Erinnerung so abgespeichert, dass man es sofort mit einem Großereignis in Verbindung bringen kann. Und doch waren es viele: Der Flüchtlingsstrom aus Syrien, der durch den Bau neuer Zäune hintangehalten werden sollte, das Kind in Aleppo, das mit staubigem Gesicht im Krankenwagen transportiert wurde, der Anschlag auf das Kulturzentrum Bataclan, jener in der U-Bahn in Brüssel oder jener in Nizza, die österreichische Bundespräsidentenwahl oder jene von Herrn Trump in Amerika.

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„365 picture+“ (Foto: Reinhard Winkler)

Gekonnt wechselt dabei der Chor, ausgestattet mit kleinen Choreografien, mit den Auftritten der Profis ab. Im abgedunkelten Raum erhält der Auftritt Letzterer durch kleine Taschenlampen, mit denen sie sich selbst beleuchten, eine zusätzliche Dramatik. Dafür sorgt auch der höchst subtil eingesetzte Sound von Bernhard Fleischmann. Zurückhaltend dort, wo er poetischen Aussagen einen zusätzlichen Feinschliff verleiht, spannend da, wo die dramatischen Ereignisse die Jugendlichen an unserer Welt schier verzweifeln lassen. Die Musik drängt sich dabei niemals in den Vordergrund, sondern unterstützt die unterschiedlichen emotionalen Stimmungen passgenau.

Bauchschmerzen, Schularbeiten, Geburtstagsgeschenke und Überlegungen zur eigenen Zukunft, Erlebnisse in den Sommerferien und Schulpausen schieben sich zwischen Berichte dramatischer Weltvorgänge. So entsteht ein vielfältiges Kompendium der Befindlichkeit einer Generation, die aufgrund einer ausufernden Informationsflut nicht mehr das Privileg genießt, unbeschwert aufwachsen zu können. „Wieso passiert eigentlich so viel? Wieso passiert immer mehr und mehr?“, bringt eine der jungen Frauen die mediale Überflutung auf den Punkt. Die Angst vor Terroranschlägen steht der Freude eines erlebten Fallschirmsprunges gegenüber. Das Glück über die bestandene Matura wird vom politischen Rechtsruck überschattet, der den Jungen unerklärlich ist.

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„365 picture+“ (Fotos: Reinhard Winkler)
Ab und zu darf aber auch gelacht werden. Über den 94-jährigen Herrn Joseph zum Beispiel, der jeden Samstag im Tabakgeschäft nach neuen Journalen fragt, dann aber doch immer dieselben Zeitungen kauft. Oder über den Sieg beim Armwrestling in der Schulpause, bei welchem der Schiedsrichter wegen Hausabschreibungspflichten ausgefallen war. Oder über die Aussage, dass Mädchen muskulöse Jungs muskellosen bevorzugen.

„Dreihundertfünfundsechzig+“ bietet auch viele Ebenen des Nach-denkens an. Über unsere eigenen Erinnerungen und Erfahrungen, die wir rasch zuschütten, über die differenzierte Wahrnehmung ein und desselben Vorkommnisses bei Alt und Jung, Mädchen oder Burschen, über die zunehmende Medienflut genauso wie über den Wunsch, Erlebtes festzuhalten. Eine gelungene Koproduktion mit Wien Modern, die am Premierenabend hauptsächlich von erwachsenem Publikum – fünfzig+ – beklatscht wurde.

Das Ensemble: Christina Maria Ablinger, Wolfgang Fahrner, Daniela Graf, Sarah Scherer.

Der Chor: Florian Haneder/Lino Eckenstein, Anna Kassmannhuber, Lena Lammer, Lorenz Manzenreiter, Atsut Moja Calle, Viktoria Rauchenberger, Christine Tielkes, Hanna Wirleitner.

Weitere Termine auf der Homepage des Dschungel Wien.

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