Tanz Christian, tanz!

Das Werk X in Meidling präsentierte im Jänner eine der sehenswertesten Produktionen dieser Theatersaison – „Riot Dancer“ vom Aktionstheater Ensemble.

Vier Frauen und vier Männer erkunden darin wer sie sind, was sie antreibt, ängstigt und nervt. Dabei gestalten sie ein buntes Kaleidoskop westlicher Befindlichkeiten, nah an Erfahrungen, die jeder und jede Einzelne aus dem Publikum so oder ein wenig anders schon gemacht haben.

Daneben agieren Florian Kmet, Bernhard Breuer und Jakob Schneidewind in einem Trio, das das Geschehen beinahe ständig musikalisch begleitet. Ihr Leadsänger jedoch ist Hubert Wild, ausstaffiert mit langem, weißen Zottelfellmantel, die E-Geige stets griffbereit. Als Countertenor, Tenor oder Bariton intoniert er Händel genauso wie Rockiges. Seine Figur scheint wie aus der Realität gefallen. Als Symbol für die Kunst schlechthin ist er auch der einzige, der keine negativ beladene Story erzählt. Das Haus am Spreestrand in Hamburg, von dem er berichtet, wird imaginär bei all dem, was die anderen an Verrücktheiten, Wirrnissen, Lebensbedrohlichem oder Menschenvernichtenden beisteuern, zu einem unerreichbaren Ort des Friedens und des Luxus. Mit seiner schludrigen Lässigkeit passt er nicht in die Hektik, die von allen anderen verbreitet wird. Vielmehr scheint er über vielen Dingen zu stehen, ohne jedoch den Kontakt zu seinen Kolleginnen und Kollegen verloren zu haben. Genau genommen benötigen sie ihn wie die Luft zum Atmen. Denn sie befinden sich permanent in Bewegung – 5,6,7, 8 zählt Kirstin Schwab immer wieder laut den Takt mit, wenn sie sich mit ihren Kollegen und Kolleginnen wieder zu neuen, kleinen Choreografien formiert. Und Wild singt dazu. In manchen Momenten solistisch, in anderen eingebettet in ein dichtes Soundgeflecht, sodass man ihn nicht mehr verstehen kann.

Susanne Brandt kümmert sich den Abend lang um Christian Rajchl. Er schlüpft in die Rolle eines debilen Spastikers und müsste dafür einen Oscar bekommen. Eineinhalb Stunden lang kippt er keine einzige Minute aus dieser speziellen Befindlichkeit, den Mund meist geöffnet, die Hände verkrampft, die Beine im Sitzen an den Knien geschlossen, die Füße nach außen verdreht. Was auch immer rund um ihn wogt und brodelt – es prallt an ihm meistens ab. Er vergnügt sich als homo ludens mit ein paar Bausteinen und benötigt nichts mehr, als das bunte Holzspielzeug, um die Welt um ihn vergessen zu können. Unterbrochen wird er von seiner Beschäftigung nur von Brandt, seiner Betreuerin, die ihn alle halben Stunden aufs Klo führen muss, um danach zu berichten, dass es einmal erfolglos war und sie ein andermal vergessen hat, Christian die Hände zu waschen. Fein, dass er währenddessen mit den Fingern in seinem Mund herumstochert.

In der Mitte der Bühne hängt eine riesige Stoffkugel von der Decke, so als ob sich ein Ballon ohne Korb in den Saal verirrt hätte. Von innen hell erleuchtet, teilt er die Bühne in eine linke und rechte Hälfte, wobei sich rechts die Musiker formiert haben. Nach und nach melden sich alle mit persönlichen Statements zu Wort. Isabella Jeschke erzählt von ihrer Brieffreundschaft, einem Mörder aus den Südstaaten, der sie eingeladen hat, bei seiner Hinrichtung anwesend zu sein. Kirstin hingegen berichtet von den Selbstmorden in einem kleinen Kärntner Dorf, um danach gedanklich rasch in ihre Parallelwelt zu flüchten, ohne die sie das Leben offenbar nicht aushält. Einfach toll, wie Regisseur Martin Gruber dieses Geschehen taktet. Wie er ihre Erzählung von Nora und Tylor, dem ungleichen Tänzerpaar aus dem Film „Step Up“, immer wieder unterbricht, um an anderer Stelle völlig unvorhergesehen wieder aufpoppen zu lassen. Brandt ist, um die neue Wortschöpfung des Falter vor wenigen Wochen zu bemühen, eine Rampen-Frau, die trotz ihrer zarten Statur die Bühne mit einer Energie erfüllt, die ansteckt.

Michaela Bilgeri berichtet, nicht ganz freiwillig, von ihren Diät-Erfahrungen und desillusioniert all jene, die meinen, nach dem Verlust von soundso vielen Kilos würde das Leben dann anders aussehen. Wunderbar humorige Beiträge kommen von Alexander Meile. Er klärt das Publikum auf, dass ihm bei einer Psychotherapie, die er wegen Problemen mit seinem Vater begann, klar wurde, dass das große Problem seine Mutter sei. Dann wieder erzählt er von seinem Onkel, einem alten 68-er, der als langhaariger Rocker in den Sozialberuf gewechselt sei. Meiles Suche nach der Rolle, die ein Mann im Leben einzunehmen hat, endet auch nicht bei seinem eigenen Rezept für Muskelkeksen. Er verkörpert einen Suchenden, einen, der Menschen gut beobachten kann, sich gerne in die Gesellschaft integrieren möchte, aber merkt, dass es dafür kein wirkliches Patentrezept gibt. Mit seinem feinen Humor gestaltet er einen extrem liebenswürdigen Typen, einen, der stets zu Scherzen aufgelegt ist, bei dem man aber seine eigenen Nöte gerne übersieht.

Andreas Jähnert verkörpert neben Rajchl einen Charakter, der in einer geschlossenen Anstalt gut aufgehoben wäre. Wobei sich ohnehin permanent die Frage aufdrängt, ob sich das Ensemble auf der Bühne nicht in einer solchen aufhält. Die weißen Overalls, die nach und nach aufgesetzten Clown-Perücken und die Baseballschläger, die den ganzen Abend über bedrohlich in ihren Händen geschwungen werden, verbreiten ein unangenehmes Gefühl von permanent unterdrückten Aggressionen. Jähnert ist der einzige, der diese immer wieder auch auslebt. „Halt die Fresse, halt die Fresse“, brüllt er an einer Stelle Susanne Brandt an und geht genauso gegen den singenden Wild vor. Trotz aller Wut, die Jähnert in sich angestaut hat, ist er es, der in dieser Performance den wohl poesievollsten Beitrag leistet. Seine Erklärung, was das Jetzt denn eigentlich sei, dieser kleine, leere Platz zwischen jenem Stapel Zeitungen, die noch nicht gelesen sind und jenem, auf dem sich jene Exemplare türmen, die schon zu lesen begonnen wurden, ist eine unglaublich bildhafte Metapher. In ihr wird nicht nur versucht, die Zeit als Phänomen an sich zu erklären, sondern damit wird das Eingebundensein des Menschen in Zwänge versinnbildlicht, denen er nicht entkommen kann.

Liebe, jenes Gefühl, um das sich auf den Bühnen dieser Welt sonst so ziemlich alles zu drehen scheint, kommt in „Riot Dancer“ nur mehr als Derivat von körperlichem Verlangen vor. In Zweier-Konstellationen, egal ob in Frau-Mann- oder auch gleichgeschlechtlichen Varianten wird zeitweilig geknutscht, was das Zeug hält. Aber mit Herz scheint dabei niemand bei der Sache zu sein. Plötzliche Wortmeldungen dabei machen klar, dass sich der Kopf nicht abschalten lässt. Befriedigt werden will einzig das Fleisch.

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Riot Dancer (c) Gerhard Breitwieser

Dass sich zum Show-Down schließlich der schwebende Ballon rot einfärbt und damit ein Weltuntergangs-Szenario beschwört, ist nicht nur logisch, sondern schlicht auch schön. An dem Tanz auf dem Vulkan, dem sich zu diesem Zeitpunkt alle ergeben, beteiligen sich nur Hubert mit seiner Geige in der Hand und Susanne nicht. Darf man bei Wild seine Phantasie einschalten, um so manchen philosophischen Gedanken zu wälzen, wie sich denn nun die Kunst an sich zum Leben verhält, sind es bei Brandt ganz prosaische Gründe, warum sie nicht mittanzt. Schmerzen im Gelenksapparat und ein Fersensporn hindern sie daran. Trotz Einlagen in ihren Wohlfühlpatschen, die ihr ihre Nachbarin geschenkt hat.

Ein Abend, der mitten ins Herz unserer disparaten Lebenserfahrungen sticht. Ein Abend, der den Lebensnerv unserer Gesellschaft blank legt. Wer nun in die Klapsmühle gehört und wer sich außerhalb davon bewegen darf, das ist eine Frage, die das Publikum für sich selbst beantworten muss. Ganz so, wie im richtigen Leben.

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