Bei uns wird Geschichte lebendig

Bei uns wird Geschichte lebendig

Er sei Dr. Ignaz Semmelweis und nur ihm sei die Entdeckung der Ursache des Kindbettfiebers zu verdanken. Joseph Listers und Louis Pasteur hätten nur seine Entdeckung wesentlich später berühmt gemacht, ärgert sich der Wiederauferstandene in einer Suada ersten Ranges. Und schon befindet sich die erschrockene Gästegruppe mittendrin im Geschehen.

DER.SEMMELWEIS.REFLEX (Foto: Barbara Pálffy)

DER.SEMMELWEIS.REFLEX vom ‚das.bernhard.ensemble‘ ist die neueste Inszenierung von Ernst Kurt Weigel, ausgestattet mit einer fulminanten Choreografie von Leonie Wahl. Zu Recht ist dem Stück die Kategorie ‚Ein Tanz.Schau.Spiel‘ vom Ensemble zugeordnet, denn von allem drei gibt es reichlich.

Vorweg jedoch ein Wikipedia-Auszug, der das Themenfeld der Inszenierung sehr anschaulich wiedergibt.

„Als Semmelweis-Reflex wird die Vorstellung beschrieben, dass das wissenschaftliche Establishment eine neue Entdeckung quasi „reflexhaft“ ohne ausreichende Überprüfung erst einmal ablehne und den Urheber eher bekämpfe als unterstütze, wenn sie weit verbreiteten Normen oder Überzeugungen widerspricht. Namensgebend für diesen Begriff ist die Entdeckung der Bedeutung der Hygiene durch den ungarischen Chirurgen und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis.

In einigen Fällen hatten Innovationen in der Wissenschaft eher eine Bestrafung als eine entsprechende Honorierung zur Folge, weil jene Innovationen etablierten Paradigmen und Verhaltensmustern entgegenstanden. Die Begriffsbildung wurde vom amerikanischen Autor Robert Anton Wilson (1932–2007) geprägt und nach dem ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis (1818–1865) benannt.

Semmelweis führte das gehäufte Auftreten des Kindbettfiebers, einer der Hauptursachen für die hohe Sterblichkeit von Müttern nach der Entbindung, auf mangelnde Hygiene bei Ärzten und Krankenhauspersonal zurück und bemühte sich, Hygienevorschriften einzuführen. Seine Studie von 1847/48 gilt heute als erster praktischer Fall von evidenzbasierter Medizin in Österreich. Zu seinen Lebzeiten wurden seine Erkenntnisse jedoch nicht anerkannt und von vielen Kollegen, besonders aber von Vorgesetzten als „spekulativer Unfug“ abgelehnt. Erst nach den Arbeiten Joseph Listers (1827–1912) im Bereich der Antiseptischen Medizin wurden die Zusammenhänge zwischen fehlenden Desinfektionsmaßnahmen, Bakterieninfektionen und Kindbettfieber klar.“

Nach einer Kurzeinführung in besagter „Leichenhalle“ siedelt Weigel das Geschehen im Allgemeinen Krankenhaus Wien an, genauer an der geburtshilflichen Abteilung, an der Semmelweis nach seinem Studium zu arbeiten begann. Gerald Walsberger verkörpert den aus Ungarn stammenden Arzt, der Abertausende Frauen schon in seiner Generation retten hätte können. Hätte – wäre seine Entdeckung, die Übertragung von Viren auf die Gebärenden durch die Hände der Ärzte, von der Kollegenschaft ernst genommen worden.

Kajetan Dick gib seinen ersten – aber bei Weitem nicht einzigen Widersacher – Prof. Klein, der seinem jungen Assistenzarzt bezüglich seiner Hygiene-Erkenntnisse kein Wort glauben will. Die beiden Charaktere könnten besser nicht besetzt sein. Das unglaubliche Komödiantentum von Dick, das einen Höhepunkt in einem Dauerlauf rund um die Bühne erfährt, während er dabei beständig jubiliert, dass er nun auf den Semmering auf Urlaub fahre, reibt sich wunderbar an der Zwanghaftigkeit, mit welcher Walsberger den unaufhörlichen Wissensdrang von Semmelweis verdeutlicht.

Es sind psychologisch gut nachvollziehbare Momente, wie jener, in dem Semmelweis sich sein Hirn zermartert, als er über die Entstehung des Kindbettfiebers nachdenkt, die das Stück so lebhaft machen. „Denk nach Semmelweis, denk nach!“ – wiederholt Walsberger immer wieder, schon fast manisch, und schlägt sich dabei auf seinen Kopf. Wer hat nicht schon die Lösung eines Problems aus seinem eigenen Gehirn herauspressen wollen? Immer wieder werden aber auch Szenen voller Spannung bis hin zum Horror so mit Humor gewürzt, dass sie verdaulich bleiben. Wenn Dick als Anatomielehrer von einem Studenten mehrfach mit dessen verunreinigtem Skalpell geschnitten wird, bleibt einem jedes Mal kurz die Luft weg, weil man das tragische Ende vorausahnt.

Leonie Wahl, Yvonne Brandstetter und Sophie Resch spielen berauschend intensiv zum einen Studienkollegen von Semmelweis von der Med. Uni Wien, zum anderen verkörpern sie Gebärende, aber auch Krankenhauspersonal. Die Szenerie wechselt dabei meist nur lichttechnisch. Aus den anfänglichen Seziertischen werden später Krankenbetten, die auch für eine sehr außergewöhnliche Choreografie Verwendung finden. Dafür verbleibt das Ensemble auf den Tischen und bewegt sich ausschließlich auf ihnen. B.fleischmann steuert live den Soundtrack bei, der, begonnen vom Brahms´schen Gute-Nachtlied, bei dem einem Böses schwant, bis hin zu jazzigen Klängen ein riesiges musikalisches Spektrum aufweist. Pia Stross ist ein Kostümsetting gelungen, das trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Trashigkeit beeindruckt. Dass man Charaktere mit kleinen Frisurenattributen kennzeichnen kann, ist ein fulminanter Einfall!

Obwohl höchst artifiziell dargestellt, wird die Tragik der Frauen, die am Kindbettfieber starben, so intensiv nachspürbar, dass es einem die Kehle zuschnürt. Es ist nicht nur diese kreative Glanzleistung, sondern darüber hinaus auch der Umstand, dass es Weigel tatsächlich gelungen ist, ein Stück über einen Mann als feministische Glanznummer hinzustellen, der fasziniert. Er zeigt sowohl die Abhängigkeit der Gebärenden von den sie betreuenden Ärzten, zugleich aber auch die Stärke der Frauen und ihren unbändigen Lebenswillen. Er macht klar, wer zu Semmelweis‘ Zeiten – und wie wir wissen, nicht nur damals – die Hauptlast der familiären Aufgaben zu tragen hatte. Antipodisch setzt er die Götter in Weiß dagegen, die zwar tagtäglich mit dem Leid der Frauen konfrontiert sind, sich aber emotional davon völlig unbeeindruckt zeigen. Spürbar wird aber auch jenes Dilemma, in dem sich Semmelweis befindet, nachdem er entdeckt hat, dass er selbst und seine Kollegen bei vielen Gebärenden an deren Tod beteiligt war. Erkenntnis, gekoppelt mit Grauen und einer vermeintlichen Ausweglosigkeit wird im Folgenden zu einem schlüssigen Movens, das Walsberger eine breite Palette an Gefühlsmomenten an die Hand gibt, um Semmelweis in seiner ausweglosen Verzweiflung darzustellen. Zugleich liefert der Umstand aber auch die psychologische Begründung, alles in seinem Leben der Vermittlung seiner Erkenntnis unterzuordnen. Allen voran das eigene, persönliche Wohlergehen.

Die Lebensgeschichte von Semmelweis wird in dieser Inszenierung bis zu ihrem bitteren Ende durchexerziert. Einem gewaltsamen Ende, von dem man nicht genau weiß, wie es dazu kam. „Geschichte wird lebendig“, dieses Eingangsstatement bleibt in dieser Aufführung Programm. Dass Weigel mit diesem Stück einen Zeitgeist getroffen hat, der sich angesichts der Pandemie tatsächlich auf breiter Front wieder mit dem großen Fragenkomplex von naturwissenschaftlichem Wissen und Nichtwissen beschäftigt, mag eine Seite des Erfolges sein. Bislang waren alle Aufführungen ausverkauft. Die Art und Weise der theatralischen Umsetzung ist der weitere Erfolgspfeiler. Intensives Theaterspiel, ganz nah am Publikum, unerwartete Handlungsvolten, spritzig-witzige Dialoge und meisterhaft aufgebaute, hoch emotionale Augenblicke – all das sind weitere Zutaten zu diesem geglückten Theaterabend.

Es ist zu hoffen, dass DER.SEMMELWEIS.REFLEX nach seinem ersten Spieldurchgang eine Wiederaufnahme erfährt und noch wesentlich mehr Personen mit dem Theater-Virus der Subvariante bernhard.ensemble infiziert.

 

Im Tanzschritt von Spanien nach Indien

Im Tanzschritt von Spanien nach Indien

Jose Agudo stammt aus Andalusien und ist mit der Musik dieses Landes aufgewachsen. Folgerichtig, dass sich der Tänzer in seinem Heimatland dem Flamenco widmete- bis er den zeitgenössischen Tanz entdeckte und schließlich bei Akram Khan Assistenzchoreograf und Probenleiter wurde.

In seinem eigenen Stück „Silk road“ vereint er seine ursprünglichen, tänzerischen Wurzeln mit jenen, die er später kennenlernte und kreiert eine Reise über tausende Kilomieter mithilfe des Tanzes. Den Grund dafür gibt der Tänzer und Choreograf mit der Verwandtschaft des Flamenco und des Kathak an. Jenem indischen Tanzstil, der genauso wie der spanische mit eleganten, fließenden Hand- und Armbewegungen und rhythmisch eindeutigen Mustern und intensiver Fußarbeit aufwartet.

Eingeladen von Impulstanz, agierten an seiner Seite im Akademietheater musikalisch der österreichische Gitarrist Bernhard Schimpelsberger und der Italiener Giuliano Modarelli, der meisterlich an den Percussions performte. Ihre Live-Darbietung wurde streckenweise mit musikalischen Einspielungen unterfüttert, trug aber wesentlich zum Erfolg des Abends bei, der in drei Teile gegliedert war.

Im ersten gab Jose Agudo zwei Flamenco-Choreografien zum Besten, wobei man zu Beginn durch einige seiner Bewegungen, wie dem Hochraffen eines imaginären Flamenco-Rockes, eine weibliche Tanzauslegung zu erkennen vermeinte. Diese wurde auch tatsächlich von einer männlichen Variante abgelöst, bei der sich der Tänzer mit nacktem Oberkörper kunstvoll im Bühnenstreulicht so in Szene zu setzen wusste, dass man dabei sein kraftvolles Muskelspiel bewundern konnte.

Der zweite Teil führte nach Indien und war dem „Kathak“ gewidmet. Einem traditionellen Tanz, der im Norden Indiens und im Punjab getanzt wird. Modarelli eröffnete die Szene mit einer lustvollen, sprachlich bewundernswerten Ausformulierung und Umdeutung der Silben Tiki-Taka in einer Rasanz und Variationsbreite die atemberaubend und humorvoll zugleich waren. Jose Agudo erinnerte in seinem weißen Kostüm an einen indischen Mönch und wusste dementsprechend langsam sein Bewegungsrepertoire auch einzusetzen. Dass sich das tänzerische Geschehen letztlich auch in eine dramatischere Körperarbeit hin wandelte, verschränkte diese zweite Arbeit kunstvoll mit seinem ersten Auftritt.

Im dritten Teil tanzte Kenny Wing Tao Ho an der Seite von Agudo ein pas de deux, in welchem eine ganze Reihe von traditionellen, indischen Bewegungselementen einflossen. Man wurde Zeuge von stilisierten,  handwerklichen Tätigkeiten wie Wäsche waschen oder auch Nähen, erlebte aber auch hoch lyrische Szenen mit den beiden Tänzern. Ein besonderer Reiz von „Silk road“ liegt im häufigen, fließenden Wechsel von kurz determinierten Geschlechterrollen, die sich aber oft rasch auflösen, ins Gegenteil verkehren oder auch unbestimmt bleiben. Das Publikum dankte mit Standing Ovations.

Was ich von den anderen lernte

Was ich von den anderen lernte

Frédéric Gies ist eine Ausnahme im Tanzbusiness. Einer jener raren Tänzer und Choreografen, der sich nicht nur bewusst ist, dass seine Arbeit von verschiedenen Tänzerinnen und Tänzern vor ihm beeinflusst wurde. Darüber hinaus versteckt er dieses Wissen nicht schamhaft, sondern breitet es vor seinem Publikum aus.

In seiner Performance „walk + talk“, die im MUMOK während des Impuls-Tanz-Festivals stattfand, tut er nicht genau das, was der Titel verkündet. Denn in der guten Stunde geht der Künstler nicht ruhig vor dem Publikum auf und ab, sondern er tanzt und spricht währenddessen. Ein sehr atemberaubendes Unterfangen. Wer dies nicht glaubt, möge selbst einige wenige Tanzschritte absolvieren und währenddessen sprechen.

19 FredericGies walktalkcThomasZamolo 02

Frédéric Gies „walk + talk“ (Foto: Thomas Zamolo)


Mit meist grazilen Bewegungen, die Arme oft hoch – oder seitlich vom Körper gestreckt, mit einer Mischung aus klassischen und zeitgenössischen Ballett-Schritten, tanzt er durch den Raum und erinnert sich an seine wesentlichen, für seinen Lebensweg wichtigen Vorbilder, die er nur beim Vornamen nennt. Dominique (Bagouet) ist eines davon, Olivia und Bernard, die mit Bagouet tanzten, sind andere. Dazu kommen noch Julia, Allister und Kristina, sowie ein ungenannter Freund, den der Techno-Begeisterte in einem Club in Berlin kennenlernte.

Von letzterem fühlte er sich derart angezogen, dass er mit diesem nach dem Kennenlernen, das er sehr minutiös beschreibt, so als könne er sich noch genau an jede Minute daran erinnern, dessen Geschlechtsteil mit beiden Händen umfasst und in der Hitze der Techno-Nacht auf diese Weise tanzt. Der vollbärtige Tänzer, bekleidet mit einem schwarzen Leinen-Damen-Sommerkleid, schafft damit den Transfer einer Tanzdramaturgie, die normalerweise nicht kommuniziert wird, hin zum Publikum. Dennoch bleibt einiges offen interpretierbar, vorwiegend die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Tanzstile. Erahnen kann man sie, da Gies tatsächlich neue Bewegungsformen in seine Choreografie einfließen lässt, sobald er über eine andere Tanzbegegnung spricht.

Er verbindet jedoch dies alles so gekonnt zu einem fließenden Ganzen, dass man meint, dass nichts von dem, was er zeigt, „Geborgtes Formenvokabular“ ist. Mit Steve Cohen, der zuvor schon im Museum Leopold zu sehen war, verbindet ihn letztlich auch das rigorose Coming-out seiner sexuellen Präferenz, die er offen anspricht. „Walk + talk“, ein Format, das Philipp Gemacher zuerst in Wien zeigte, erweist sich als lustvolle Nachhilfestunde im Bereich zeitgenössischer Tanz. Nicht nur, dass sich dabei einzelne Künstlerinnen und Künstler exklusiv präsentieren, sie lassen auch hinter die Kulissen ihrer Arbeit blicken und teilen Obsessionen oder auch Motivationen mit, die Auswirkungen auf ihre künstlerische Arbeit haben.

Lebensstürme und ihr Vermächtnis

Lebensstürme und ihr Vermächtnis

Lebensstürme und ihr Vermächtnis

Lebensstürme und ihr Vermächtnis

„The Storm“ – James Wilton Dance (Foto: Brain Slater)
Sie springen, sie rollen, sie rutschen über die Bühne, dass man meinen könnte, Knochen haben diese Tänzerinnen und Tänzer keine. Das Tempo, das sie dabei an den Tag legen, ist ebenso atemberaubend wie die Bewegungen mit Elementen der Bodengymnastik, aber auch des Urban Dance sowie des klassischen, zeitgenössischen Tanzes.
Wieder einmal gastierte James Wilton bei der internationalen Bühnenwerkstatt in Graz und beeindruckte mit seinem Ensemble das Publikum restlos.
War es im Vorjahr „Leviathan“, das zu Begeisterungsstürmen hinriss, so stand dieses Mal die neue Produktion „The Storm“ auf dem Programm und ließ sogleich Assoziationen mit Shakespeares gleichnamigem Stück aufkommen.

Tatsächlich stürmt es mehrfach wild auditiv und wirbelt die Menschen kräftig durcheinander, die anfangs in Harmonie lachend und scherzend den Abend eröffneten. Zwei davon trifft es besonders. Sarah Jane Taylor und Norikazu Aoki werden durch eine Sturmattacke so traumatisiert, dass sie nicht wieder in ihre frühere Fröhlichkeit zurückfinden.Wilton erzählt mit seinem Ensemble eine Geschichte, die symbolisch für all jene Schicksalsschläge steht, welche Menschen treffen und aus der Bahn schleudern können. In seinem Stück geht es darum, wie diese sich in der Zeit der Krise benehmen, welche Auswirkungen das auf die Umgebung hat und wie sie wieder zu sich finden und letztlich auch in der Gesellschaft wieder einen Platz einnehmen können.

The Storm James Wilton2cSteve Tanner
„The Storm“ – Sarah Jane Taylor (Foto: Steve Tanner)
​Dabei sind es immer wiederkehrende Gesten, die beredt von Freud und Leid erzählen. Wie jenes gemeinsame Armschaukeln der Freunde nach vor und zurück, bei welchem in der Anfangsszene die Hände der Hauptfiguren fröhliche Ausfallbewegungen machen. Oder jenes Handzittern, das Taylor nach ihrem Zusammenbruch immer wieder heimsucht, so sehr sie sich auch dagegen zur Wehr setzt. Aoki hingegen möchte sichtlich nichts mehr, als die Vergangenheit wieder zurückholen. Immer wieder erscheint ein runder, orangefarbener Lichterkreis, um den die fröhliche Gesellschaft anfangs saß und miteinander plauderte. Eine Erinnerung, die er nicht aus seinem Gedächtnis löschen kann, sosehr ihn Wilton auch davon abhalten möchte.

Es ist sicherlich der Beratung des Neurowissenschaftlers Dr. David Belin zu verdanken, dass die Choreografie viele unterschiedliche Stufen der Traumaverarbeitung aufzeigt. Und diesen Prozess von mehreren Seiten beleuchtet. Erst als Wilton die junge Frau mit ihren zitternden Händen so konfrontiert, dass sie diese nicht mehr hinter ihrem Rücken versteckt und erst, als er den psychischen Heilungsprozess bei Aoki zulässt, ohne beständig intervenieren zu wollen, flattert ein Aschenregen auf die Bühne, der die Katharsis ankündigt, die zu einer Heilung notwendig ist.

„The Storm“ zeigt auch auf, wie hilflos sich jene vorkommen, die den Betroffenen vielfach ihre Hand und Unterstützung anbieten, von diesen aber jedes Mal wieder zurückgewiesen werden. Einfach toll zuzusehen, wie Aoki in einem Solo zeigt, wie viele Arten es gibt, sich am Boden fortzubewegen, aufstehen zu wollen, aber immer wieder zu scheitern. Hoch emotional auch jene Szenen, in welchen James Wilton selbst zu Boden geht in der bitteren Erkenntnis, nicht helfen zu können. Die sich abwechselnden Solo-Szenen mit solchen, in welchen nicht nur die drei Hauptcharaktere tanzen, sondern auch das vierköpfige Nachwuchsensemble auf der Bühne ist, faszinieren beständig.

Die zu Beginn psychedelische Musik, die wogend eine heile Welt vorgaukelte, wird im Laufe der Zeit rhythmisch wilder, um bald darauf gänzlich andere Klangfarben anzunehmen. Die James Wilton Dance Cie bietet den Soundtrack, der von der polnischen Band Amarok unter Michal Wojtas produziert wurde, übrigens auch zum Kauf an.

The Storm James Wiltonc Steve Tannerjpeg
The Storm James Wiltonc Brian Slater
The Storm (Fotos: Brian Slater)
Der versöhnliche Schluss ist dennoch kein Happyend im klassischen Sinn. Zwar schaffen die drei Freunde, die das Schicksal für eine lange Zeit trennte, wieder einen Schulterschluss und beginnen langsam, ihre ausgestreckten Arme gemeinsam nach vorne und rückwärts zu bewegen. Das ausgelassene Wechselspiel ihrer Hände, das zu Beginn die ausgelassene Lebensfreude charakterisierte, bleibt aber aus. Ein subtiler und höchst realistischer Hinweis darauf, dass das Leben nach traumatischen Erfahrungen zwar weitergeht, aber nicht mehr das ist, was es einst einmal war.

Fazit: Tänzerisch und dramaturgisch extrem sehenswert!

Sie machen uns eine Freude, wenn Sie den Artikel mit Ihren Bekannten, Freundinnen und Freunden teilen.

Zerbrochen an der gesellschaftlichen Konvention

Zerbrochen an der gesellschaftlichen Konvention

„The Dance Factory“ zeigte bei Impulstanz im Volkstheater „Swan Lake“ in der Choreografie der Südafrikanerin Dada Masilo. Eine Neuinterpretation von Tschaikowskys Ballettklassiker, in der kein historisch choreografierter Stein auf dem anderen blieb. Gerade deswegen ist diese Aufführung auch so unglaublich erfrischend. Wer darauf wartet, klassisches Ballett serviert zu bekommen, staunt nicht schlecht. Denn gleich im ersten Auftritt macht Masilo klar, dass davon zwar noch Rudimente vorhanden sind, ihr Fokus jedoch auf einer Weiterentwicklung des Tanzes liegt. Bewegungselemente aus der afrikanischen Tanztradition kommen darin ebenso vor wie solche aus dem contemporary dance. Kein Wunder, studierte sie doch nach ihrem Beginn an der Dance Factory in Johannesburg an Anne Teresa de Keersmaekers Schule P.A.R.T.S. in Brüssel.

Frauen und Männer in Tütüs

14 DadaMasilo TheDanceFactory SwanLake 11cJohnHogg

Dada Masilo’s ‚Swan Lake‘ as previewed at the Dance Factory in Newtown, Johannesburg. (c) John Hogg.

Sechs Männer und sechs Frauen bilden das Corps de ballet, in dem Masilo selbst mittanzt. Ausgestattet sind alle, egal ob Frauen oder Männer, mit weißen Tütüs und einer kleinen Federkrone am Kopf. Damit gerät Masilo nicht in die Zitationsfalle der legendären Interpretation von Matthew Bourne, in der die männlichen Schwäne mit Federhosen gekleidet waren. Unweigerlich kommen jedoch Erinnerungen an unzählige männliche Laien-Schwanenballets in Tütüs in den Sinn, die jedes Mal wieder zu Lachstürmen hinreißen. Dieses Mal ist es aber anders. Obwohl die Hälfte der Schwäne männlich besetzt ist und obwohl deren Kostüme wirklich lachhaft sind, ist das Lächeln über diesen Auftritt bald verschwunden. Denn die Professionalität, mit der hier getanzt wird, ist außerordentlich. Selbstverständlich macht sich Dada Masilo mit dieser Idee über das klassische Ballett ein wenig lustig. Dazu kommt noch ein Eingangsstatement, in dem ein Artikel von Paul Jennings aus dem Sunday Telegraph Magazine zitiert wird. Darin verwundert er sich als Außenseiter, der keine Ahnung von Tanz hat, höchst humorvoll über das klassische Ballett.

Danach geht es erst richtig los mit der Geschichte, in welcher – wie könnte es anders sein – die Liebe im Mittelpunkt steht. Allerdings ist es nicht die Liebe zwischen dem Prinzen und dem verzauberten Schwan, sondern seine Liebe zu einem gleichgeschlechtlichen Partner, der ihn mit einem furiosen Tanzsolo komplett verzaubert. Zwar soll Siegfried – der Name des Prinzen wurde beibehalten – eine Schönheit heiraten. Es ist aber nicht eine selbst gewählte, sondern eine verkuppelte Liebe, der er sich beugen soll. In mehreren Szenen verdeutlicht Masilo den inneren Kampf des jungen Mannes, der letztlich aber so unter dem gesellschaftlichen Druck leidet, dass es ihm nicht möglich ist, zu seiner wahren Liebe zu stehen.

Von überschäumender Lebensfreude zu tiefer Trauer

Masilo ist nicht die erste, die den Prinzen mit homoerotischen Gefühlen ausstattet. Der leider schon verstorbene Choreograf Bertrand d`At schuf ebenfalls eine solche Interpretation mit tragischem Ausgang. Dada Masilos kluge Choreografie lässt die klassischen Ballett-

14 DadaMasilo TheDanceFactory SwanLakecJohnHogg

The Dance Factory, Newtown, Johannesburg.
‚Swan lake‘ by Dada Masilo. (c) John Hogg

Elemente, je weiter die Geschichte voranschreitet, nach und nach beiseite. Verwendet sie schon kurz nach Beginn Bewegungen und Schritte aus dem afrikanischen Folklorebereich – herrlich wie sich die Prinzessin mit Hüftschwung und Pogewackel umsonst um ihren Prinzen bemüht – nähert sich das Tanzvokabular im Laufe der Vorstellung immer stärker dem europäisch geprägten, zeitgenössischen Tanzstil. Bis schließlich, im letzten Akt, das Brüsseler Studium von Masilo greifbar wird. Ganz in schwarzen, weiten Hosen tanzen nun alle Beteiligten ihren Abschiedstanz. Es ist ein Abschied von der Liebe, ein Abschied vom Leben, aber auch ein Abschied vom klassischen Ballett. Nichts davon ist zu den Klängen von Avo Pärts „Spiegel im Spiegel“ mehr geblieben. So ausgelassen und fröhlich es über weite Strecken in der Choreografie zuvor auch zuging, so feurig sich das Ensemble mit lauten Rufen präsentierte, die ihren Tanz begleiteten, so still, ruhig und traurig fallen sie nacheinander um und bleiben regungslos am Boden liegen. Die nun dunkle Bühne tut ein Übriges, um den Schmerz und die Trauer zu versinnbildlichen, welche übrig bleiben.

„Swan Lake“ in Dada Masilos Version ist ein Tanzfeuerwerk, das nicht nur eine traurige Liebesgeschichte erzählt. Es ist nicht nur der gelungene Versuch, gänzlich unterschiedliche Tanzstile zu einem neuen Bewegungsuniversum zu verschmelzen. Es ist vor allem auch die aktuelle, südafrikanische Aneignung einer europäischen Tanztradition, deren Fortbestand gerade durch diesen Blick von außen und diesen außereuropäischen Input eine neue Legitimation bekommt.

Das Ensemble: Nadine Buys, Zandile Constable, Nicola Haskins, Dada Masilo, Ipeleng Merafe, Khaya Ndlovu, Thabani Ntuli, Henk Opperman, Steven Thibedi, Thami Tshabalala, Llewellyn Mnguni, Tshepo Zasekhaya

Mit einer neuen Interpretation des Ballett-Klassikers „Giselle“ tritt die Dance Factory noch einmal bei Impulstanz auf.

Pin It on Pinterest