Die Abgründe der menschlichen Seele

Die Regisseurin Andrea Breth adelte die Wiener Festwochen mit ihrer Interpretation von Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“. Gemeinsam mit einem Epilog, in dem Robert Schumanns „Geistervariationen“ erklangen, gelang ihr eine bilderstarke, beeindruckende und emotional packende Inszenierung, die einen großen Bogen von ihrem Anfang zu ihrem Ende spannt. Auch wenn ein Teil des Publikums mit Unverständnis reagierte.

Herzog Blaubart ist ein kurzes, nur 1-stündiges Werk weswegen die Veranstalter dieses beinahe immer mit einer zweiten Aufführung koppeln. Die Bandbreite reicht hier von verschiedenen Werken Arnold Schönbergs bis hin zu Schuberts Winterreise. Gewiss wunderbar zu hören, aber es fehlt ihnen jeglicher Konnex mit Blaubarts Geschichte. Andrea Breth ließ sich gemeinsam mit Markus Hinterhäuser auf ein Experiment ein und setzte nach der Oper auf eine Collage aus Schauspiel und  Klavierkonzert.

Das Licht im Publikumsraum des Theater an der Wien erlischt. Langsam, sehr langsam hebt sich der Vorhang. Schemen nur sind zu erkennen. Herzog Blaubart sitzt im linken Teil der Bühne vor einer Reihe von sieben verschlossenen, hohen, schwarzen Holztüren. Sein Gesicht ist geisterhaft erhellt, aber er blickt nicht zu seiner Frau Judith, sondern er hat sich von ihr abgewandt. Es erklingt keine Musik, sondern nach einer Weile in der die Stille dominiert, beginnt er jenen Prolog selbst zu sprechen, der für gewöhnlich von einem Redner vor dem Vorhang der Aufführung vorangestellt wird.

In Ungarisch, der Originalsprache des Librettos und der Muttersprache des Hauptdarstellers. Wer dieser Sprache nicht mächtig ist, spürt jedoch instinktiv, dass das, was er spricht, von Grauen durchtränkt ist. Seine kurz zuvor angetraute Frau Judith, liegt am Boden. Markiert damit völlig unprätentiös die vollzogene Ehe. Bald schon macht sie ihm klar, dass sie für ihn ihre Eltern, ihren Bruder und ihren Bräutigam verlassen hat und beginnt damit eine psychologische Kriegsführung, an deren Ende schließlich ihr Tod steht. Blaubart wird normalerweise als das blutrünstige Monster dargestellt, dass seine Frauen der Reihe nach abschlachtet. In Breths Inszenierung wird aber klar, dass zumindest seine letzte Frau, Judith, ihn dermaßen in die Enge drängt, dass sein Tun schon wieder verständlich wird.

Martin Zehetgruber erweist sich als Bühnenbildzauberer

In einem überwältigenden Bühnenbild, das die Drehbühne im Theater an der Wien weidlich ausnutzt, zeigt Martin Zehetgruber einen bedrohlichen Kellerraum nach dem anderen und erweckt dadurch mannigfaltige Assoziationen zu Verbrechen, die in den letzten Jahren weltweit durch die Medien gingen. Gábor Bretz gibt einen jungen Blaubart, der offenkundig psychische Probleme hat. Manches Mal sitzt er abseits und hält seine Ohren zu, dann wieder läuft er immer und immer wieder gegen mit Plastik ausstaffierte Wände. Ein deutliches Bild, das gut ausdrückt, wie sehr er in seinen dunklen Gedanken gefangen ist. Er möchte mit seiner jungen Frau, gesungen von Nora Gubisch, ein neues Leben beginnen, aber die tiefen Abgründe seiner Seele holen ihn rasant ein. Nach und nach gibt er Judith auf ihr Drängen hin die Schlüssel zu den verschlossenen Räumen, die sie öffnet. Darin erkennt sie Grauen und Abstrusitäten ungeahnten Ausmaßes.

Ein Mann,  an einem Tisch stehend und Blut von demselben wischend, ignoriert den leblosen Körper am Boden vor ihm. Im nächsten Raum, der bei Bartok als Waffenkammer beschrieben ist, halten sieben Männer mit gebückten Köpfen große Wecker in ihren Händen. Es sind immer wieder dieselben, teils kräftigen, teils gebrechlich wirkenden, gebückten Gestalten, die hier auftauchen. Die Schatzkammer ist ein kalter, unterirdischer Bunker mit vielen Schließfächern. Jede größere Bank kann damit aufweisen. Blutrote Ketten hängt sich Judith darin um bis sie bemerkt, dass die Königskrone mit Blut benetzt ist.

Im Garten, der ebenfalls im Schloss selbst verortet ist, sitzt eine alte Frau, die weiße Lilien vor Judiths Füße fallen lässt, eine eindeutige Geste der Verabschiedung wie bei einem Begräbnis. Neben ihr ein alter Mann, der beständig Erde aus einem Eimer auf den Boden wirft. Am Schluss der Szene streut er diese sogar auf Judiths Füße und nimmt ihr Ende damit bildlich schon vorweg. Das Zimmer, in welchem Blaubart seiner Frau vom Fenster aus sein Reich zeigt, wird von einer grauen, kahlen Felsenmasse förmlich überschwemmt. Breth und Zehtegruber sparen nicht mit Analogien, die die kalte Seelenlandschaft von Blaubart mit jeder Bühnendrehung aufs Neue illustriert. Der See der Tränen spiegelt sich an den Blumentapeten der vorletzten Zelle wieder.

Die seelischen Zerrüttungen, denen Blaubart ausgesetzt ist und das beständige Ignorieren seines Zustands von Judith treibt die Handlung ihrem grausamen Ende zu. Auch die allerletzte Türe öffnet der junge Mann schließlich widerwillig, nachdem er seine Frau mehrfach darum bat, diese geschlossen zu halten. Breth schafft es, dass man mit Blaubart mitfühlt. Zwar ist es nicht möglich, sich seine Taten zu erklären, aber die Bedrängnis seiner Seele wird überdeutlich.

Die Regisseurin klagt nicht an, sie verurteilt nicht, sie macht lediglich klar, dass Judith kein unschuldiges Opfer ist. Zu rasch, zu forsch drängt sie Blaubart, ihr alles zu erzählen, sein Leben vor ihr auszubreiten ohne zu spüren, dass sie Unmögliches verlangt. Aus der letzten geöffneten Türe treten drei junge Frauen, alle im gleichen Outfit wie Judith, allein die Farbe ihrer Kleider differiert in einer kleinen Nuance. Wie Zombies lehnen sie sich an die junge Ehefrau an und sinken mit ihr schließlich Boden. Blaubart schließt die Tür und legt sich zu ihnen. Es bedarf keiner weiteren Erklärung, keiner Mordrequisiten, die Aussage ist klar und deutlich. Judith ist ein weiteres Opfer von Herzog Blaubart, der sich lange wehrte, in die Abgründe seiner Seele blicken zu lassen, aber letztlich dem permanenten Druck von Außen nicht gewachsen war.

Junge Profis im Orchester

Dass Jugenorchester heute auf einem Niveau spielen, wie es vor einigen Jahrzehnten große Orchester nicht taten, ist bekannt. So agiert auch das Gustav Mahler Jugendorchester. Sowohl die innigen als auch die furiosen Passagen mit ihren vielen Fortissimi kommen klangdifferenziert aus dem Orchestergraben. Nagano dosiert die Klangfülle perfekt, sodass Bretz und Gubisch an keiner Stelle stimmlich im Orchester ertrinken. Beide meistern ihre Rollen herausragend.

Nie wird auch nur ein Funken Pathos hörbar, der die Emotionen leicht ins Kitschige abgleiten ließe. Vielmehr unterstreichen sie mit ihren Stimmen eher einen Erzählduktus. Die Illustration der Gefühle und des Geschehens liegt ganz auf der Orchesterseite. Oft tönt es ruppig und trocken, dann wieder schwellen die Klangmassen bedrohlich an. Manches Mal, illustriert  Bartóks Musik feinste Seelenregungen, wie im Raum des Tränensees, den er mit feinem Glöckchengeläut ausstattet.

Ein großer Bruch von der Oper zum Sprechtheater und zurück zur Musik

Obwohl die Arbeit des Dirigenten Kent Nagano und des Gustav Mahler Jugendorchesters beendet ist, erscheint niemand vor dem Vorhang, um sich feiern zu lassen. Allein dieser Umstand hätte zu denken geben müssen, dass das, was jetzt noch kommen wird, in einem Zusammenhang mit dem steht, was gerade gezeigt wurde.

Der Bruch zu Bartóks kunstvoller Musik und der opulenten Ausstattung wird innerhalb der ersten Minuten des zweiten Teils sicht- und spürbar. Die Regisseurin zeigt einen großen, holzvertäfelten Raum in dem sich jene sieben Männer wiederfinden, die zuvor Blaubarts Burg bevölkerten. Auch die drei jungen Frauen sind wieder da und sitzen auf einem großen, mit rotem Samt bezogenen, historisierenden Sofa. Die Männer sind im Raum verteilt. Fünf davon verharren regungslos neben je einem ihnen zugeteilten Radiator.

Der große Saal bleibt von seiner Funktion her unbestimmt. Ist es ein Wartesaal, ein Saal in einem Gerichtsgebäude oder befindet er sich vielleicht in Herzog Blaubarts Burg? Die Rohre, die sich zuvor durch die Katakomben schlängelten, sie sind hier wieder zu sehen und markieren einen dementsprechenden Konnex. Hundegebell ist zu hören und veranlasst einige der Gestalten, den Kopf in die Richtung jener Stelle zu drehen, die den Blick auf einen Gang freigibt, der entlang der Stirnseite hinter dem Raum verläuft.

Nach und nach kommen die Männer zu Wort. Erzählen biographische Fetzen, brüllen einander an, schlurfen vor sich hin und lachen über ihre eigenen Hobbys. „Meine Hobbys kann mir keiner nehmen“, erklärt einer von ihnen, während er repetitiv Wasser aus Plastikbechern zu seinen Kollegen bringt, dies umschüttet und zum nächsten wandert. Eine grazile Männergestalt wird in den Raum getragen, leblos erscheint sie, doch einmal an den Bühnenrand gestellt, beginnt der Mann plötzlich zu tanzen.

Wieder voll des Lebens, erzählt er seine traurige Berufsgeschichte, die ihn am Ende in ein tiefes seelisches Loch stürzen ließ, aus dem er sich nicht mehr herausarbeiten konnte. „Ich möchte nur mehr schlafen“ sagt er, sinkt nach einem letzten, von einem Kollegen gestützten Tanz nieder und bleibt liegen. „Wenn die Menschen nur über das sprächen, was sie begreifen, dann würde es sehr still sein auf der Welt“. Diesen Satz von Albert Einstein gibt ein weiterer Untoter zum Besten.

Denn die Menschen, die hier gezeigt werden, haben nichts Lebendiges mehr in sich. Diese Aussage macht klar, dass nicht alles, was auch hier auf der Bühne gesprochen wird, unbedingt einen Sinn ergeben muss. Assoziationen zu Psychiatrien und Altersheimen kommen auf. Aber auch die Vorstellung, dass dieser künstliche Ort nur dazu da ist, das Menschsein an sich, die Hilflosigkeit, Sinnlosigkeit und auch die Einsamkeit zu veranschaulichen, die viele Menschen, wenn nicht sogar alle, einmal zu spüren bekommen.

Ein Mann aus dem Publikum verliert die Nerven und unterbricht rüde einen der Schauspieler, während dieser einem Kollegen die Haltestellen eines ungarischen öffentlichen Verkehrsmittels mit seinen Anfahrtszeiten aufzählt. „Geht das nicht schneller!“, ruft der Besucher laut und bekundet damit, unter welcher Anspannung er wohl selbst steht. Die Unhöflichkeit, die von diesem Eingriff ausgeht, scheint er nicht zu bemerken oder billigend in Kauf zu nehmen.

„Unser Leben ist umgeben von Lärm, überall hören wir Musik, es gibt keinen stillen Raum mehr. Wenn ich im Theater dann 30 Minuten Stille präsentiere, dann gibt es Menschen, die das nicht aushalten können“, erklärte Breth im Publikumsgespräch. Und doch sind es keine 30 Minuten absoluter Stille. Es sind 30 Minuten, in welchen der Verstand das, was gezeigt wird, nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen kann.

Ein dramaturgischer Kniff, der heutzutage in vielen Inszenierungen eingesetzt wird. Wer hier auf Biegen und Brechen in jeder Minute auf Erklärungen wartet, ist fehl am Platze. Wer jedoch in seine eigenen Emotionen hineinhört und abwartet, wer der Inszenierung, nicht nur dieser, sondern vielen andern auch, eine Chance gibt und sich auf das Geschehen ganz intuitiv einlässt, hat die Möglichkeit, mit einer Erkenntnis nach Hause zu gehen. Das absurde Treiben macht klar, dass hier Menschen zugange sind, die genauso unerklärlich agieren wie Blaubart. Die Gedanken haben, die nicht nachvollziehbar sind, jeglicher Logik entbehren.

Plötzlich setzt Klaviermusik ein. Elisabeth Leonskaja beginnt ganz verhalten Robert Schumanns Geistervariationen zu spielen. Unsichtbar, unter der Bühne, sodass man meint, die Musik würde gar nicht live gespielt. Mit einem Schlag wird es im Publikum still. Es gibt niemanden mehr, der den Saal verlässt. Die Macht dieser unendlich traurigen Musik, Schumanns letztes Werk vor seinem Selbstmordversuch, ergreift alle Anwesenden. Nun wird auf der Bühne nicht mehr gesprochen.

Die Männer beginnen langsam ihre Radiatoren zu putzen. Der Tänzer, der leblos am Boden liegt, wird von seinem Freund ebenfalls mit einem Putztüchlein saubergemacht. Die sinnlosen Beschäftigungen wiederholen körperlich nur das, was zuvor noch verbalisiert wurde. Die Zuwendung an leblose Dinge oder an Verstorbene macht hier keinen Unterschied mehr. Die Männer agieren zurückgezogen in ihrem eigenen Kosmos, in ihrem eigenen Sein. Ein Bild, das durchtränkt ist von einer tieftraurigen Poesie und das nun noch stärker wirkt als die gespielte, nutzlose Betriebsamkeit zuvor.

Langsam, beinahe unmerklich, erlischt das Licht. Auf der Bühne scheint niemand die Ankunft von Herzog Blaubart zu bemerken. Er taucht im Gang auf und rezitiert, nachdem die Musik verklungen ist, noch einmal den Prolog. Dabei öffnet er eine Türe, die ins Nichts, ins schwärzeste Schwarz führt. Nun scheint auch sein letzter Gang angebrochen.

Feinsinnig, emotional, intelligent: Die Regie von Andrea Breth

Andrea Breth offenbart mit dieser Arbeit einen Blick auf die Welt, der durchtränkt ist vom Verständnis auch der allertiefsten Abgründe. Oder zumindest von der humanistischen Idee des Zulassens in diese hineinzublicken und nicht des Verbietens oder Verurteilens. Eine gute Inszenierung schafft es immer, Zeitbezüge ins Hier und Jetzt zu eröffnen. Dass am Tag nach der Premiere ein junger Mann in Graz eine Amokfahrt verübte, bei der Menschen getötet wurden und viele verletzt, zeugt davon, dass diese Abgründe der menschlichen Seele sich leider auch in unserem Land nicht nur auf der Bühne zeigen.

Gemordet wird, seit es Menschen auf dieser Welt gibt. Depressionen und Seinszustände, die sich abseits der sogenannten Norm befinden, beherrschen im Grunde das Dasein auf dieser Welt. Wer da nicht hinschauen will, läuft Gefahr, eines Tages von solchen Geschehnissen wie von einem Tsunami überrollt zu werden.

Inszenierungen wie diese geben Anlass, sich mit den menschlichen Untiefen auseinanderzusetzen und sich bewusst zu werden, dass niemand davor gefeit ist, sich selbst einmal in einer Position zu befinden in der er oder sie Hilfe benötigt. Denn Opfer sind alle. Egal, ob sie ihre Hand gegen andere erheben oder von einer solchen getroffen werden.

Breths hoffnungsloses Ende ist nicht mehr und nicht weniger als die Demaskierung jeglicher Schönfärberei was das Lebensende betrifft. Gerade deswegen für einige aber nicht auszuhalten. Langer Applaus zeigte, dass der Großteil des Wiener Publikums die Botschaft verstanden hat.

Bei der Aufführung am 23. Juni ist noch einmal Elisabeth Leonskaja zu hören, am 25. Juni wird dann Markus Hinterhäuser, Pianist und Intendant der Wiener Festwochen, selbst am Klavier sitzen.

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