In einem einzigen Moment zeigt sich der Charakter

In einem einzigen Moment zeigt sich der Charakter

Chris Thorpe, britischer Schriftsteller, ist einer jener Autoren, die der neue Direktor des Schauspielhauses, Thomas Schweigen, dem Publikum näher vorstellen möchte.

Sein Stück „Möglicherweise gab es einen Zwischenfall“, hatte am 6. November Premiere. Man könnte das Werk auf den ersten Blick für tiefschwarz halten, beim genauen Hinhören und Hinsehen aber ist es zugleich auch unglaublich tröstlich.

In der Regie von Marco Štorman, die man auf weite Strecken hin ohne Weiteres als abstrakt bezeichnen kann, werden nicht so sehr die Charaktere der Beteiligten herausgearbeitet. Vielmehr stehen Erlebnisse im Vordergrund, die sie an einem bestimmten Punkt ihres Lebens zum Handeln gezwungen haben. Was davor und was danach ihr Leben bestimmte, wird nur vage angedeutet.

Sie sind zu dritt. Aber es sind vier Geschichten. Geschichten aus dem Leben von vier Menschen. Auf der Bühne stehen drei Schreibtische. Die beiden Frauen und ein Mann lächeln unverbindlich ins Publikum. Sie werden ihm Ereignisse erzählen, die nicht zum Lachen sind. Aber muss man sein ganzes Leben lang Trauer im Gesicht tragen, auch wenn man Schreckliches erlebt hat?

Die Handlungsstränge verzahnen sich nicht, aber sie gehorchen einer eigenen Rhythmik. Die Geschichten ähneln sich nicht. Aber sie steuern auf einen bestimmten Höhepunkt zu. Thorpe lässt eine Politikerin zu Wort kommen, die maßgeblich zum Sturz der Diktatoren ihres Landes beitrug; eine Frau, die ein neues Leben beginnen möchte und der ein Flugzeugunglück dabei dazwischen kommt; einen Mann, der Zeuge wird, wie sich jemand aus der Menschenmenge löst und sich demonstrativ einer Kompanie von Panzern in den Weg stellt. Und dann ist da noch jener Terrorist, der im Jugendparlament kaltblütig Jugendliche abschlachtet, um die Überfremdung in seinem Land einzudämmen. Von ihm erfährt man seine Motivation anhand eines Verhöres, bei dem er bereitwillig Auskunft gibt. Er ist der einzige, der sich nicht in einer unvorhergesehenen Situation für oder gegen etwas entscheiden muss. Vielmehr steigert sich bei ihm die Schuld, die er auf sich genommen hat, noch zusätzlich durch die minutiöse Vorbereitung auf die Tat. Der Mann hingegen, der sich ohne zu zögern auf ihn stürzt, um ihn am weiteren Abschlachten zu hindern, er gehört zu jenen Helden, die zeigen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die diese Bezeichnung auch zu Recht tragen.

"Möglicherweise gab es einen Zwischenfall"

Steffen Link, Vassilissa Reznikoff und Sophia Löffler (c) Arnim Friess

Der Autor zeichnet aber nicht nur einen Querschnitt an zeitgemäßen Katastrophen und Momentaufnahmen nach, die bewusst reale Vorbilder haben. Das wäre zu einfach. In seinem Stück wird gleichzeitig die ganze Bandbreite von menschlichem Sein aufgezeigt. Begonnen von Altruisten und emphatischen Personen, die im entscheidenden Fall nicht ihr Leben, sondern das der anderen schützen möchten, bis hin zu solchen, für die das Leben an und für sich keinen Wert hat. Thorpe macht dabei klar, dass Schicksalsmomente durch Entscheidungen von einzelnen Personen geschrieben werden. Durch ihr Tun oder Unterlassen. Durch ihre Handlung oder auch einen Rückzug. Er macht auch klar, dass es dafür kein Patentrezept gibt und auch keine Voraussage, die getroffen werden kann, wie jemand im Fall der Fälle tatsächlich agiert. Wahrscheinlich weiß niemand von uns, wie wir uns selbst in einer unvorhergesehenen Situation verhalten würden, die rasches Handeln verlangt. Ein Handeln, von dem die Zukunft von Menschen auf dem Spiel steht.

Steffen Link, Sophia Löffler und Vassilissa Reznikoff wechseln häufig von der Bühne ins Off, werden gefilmt, oder filmen selbst die anderen. Sie erwecken bei ihren Erzählungen den Eindruck, als seien ihnen ihre Entscheidungen fremd, ja vielmehr, als ob die Bruchteile von Entscheidungssekunden mit reflektiertem Handeln gar nichts zu tun hätten. Mit dieser Herangehensweise nähert sich Thorpe auch jenem Diskussionsfeld, das die Freiheit der persönlichen Entscheidung per se infrage stellt.

„Möglicherweise gab es einen Zwischenfall“ bietet eine Menge von Reflexionsebenen an. Mit dieser zweiten Produktion demonstriert das neue Team am Schauspielhaus, wie auch schon in „Punk und Politik“, seine Idee von Theater, die mit zeitgenössischen Autoren das Hier und Heute erkundet. Thorpe tut dies zwar anhand der ausgewählten Geschichten, die er unserer Gesellschaft entnimmt, aber er schafft auch den Dreh zu einer Zeitlosigkeit. In ihr verwandelt sich das Aktuelle zur allgemein gültigen Aussage über die Conditio humana, nämlich dass Menschen, wenn es darauf ankommt, alles sein können. Von gut bis böse und auch alles dazwischen.

Chris Thorpe ist am 15. November persönlich mit seinem politischen Monolog „Confirmation“ im Schauspielhaus zu Gast.

Nähere Informationen auf der Internetseite des Schauspielhauses.

 

PS: Für alle, die sich das Team des Schauspielhauses gerne an die Wohnzimmerwand hängen möchten, hier noch ein Tipp: Im Programmheft findet sich wie weiland in den Bravo-Heften ein Starschnitt von Sophia Löffler. Im Maßstab 1:6.37! Auf zum munteren Schnippeln!

 

 

 

Ein Störenfried im sozialen Ungefüge

Ein Störenfried im sozialen Ungefüge

„Das Gemeindekind“, frei nach Ebner-Eschenbach, neu interpretiert von Anne Habermehl, entpuppt sich als Hybrid zwischen Theater, Oper, konzertanter Aufführung und dem historischen Genre des Singspiels im Schauspielhaus Wien.

Er ist 15. Seine Mutter sitzt im Gefängnis. Warum, weiß man nicht so genau. Gerüchte kursieren. Sein sprachlicher Ausdruck ist beschränkt. Alleine wohnen kann er noch nicht. Er ist kein Kind mehr, aber auch nicht erwachsen. Wer soll sich nun um ihn kümmern?

In Marie von Ebner-Eschenbachs Roman „Das Gemeindekind“ erleidet Pavel ein Schicksal, das sich von einer Fremdbestimmheit und Ausgrenzung hin zu einer autonomen und selbst gewählten Lebensführung entwickelt. Eingebunden in dörfliche Strukturen des 19. Jahrhunderts, erscheint  uns der Text heute rein historisch. Die Hausautorin des Schauspielhauses in der Saison 2014/15, Anne Habermehl, hat sich dieses Stoffes angenommen und ein Libretto verfasst, das von Gerald Resch vertont wurde. Uraufgeführt wurde das Stück im Schauspielhaus als letztes einer Reihe, welche das zeitgenössische Musiktheater in dieser Saison in den Mittelpunkt des Interesses stellte. Im Untertitel trägt es die musikalische Ergänzung Singspiel.

Genau genommen hätte es auch ins Konzerthaus gepasst oder ins Theater an der Wien. Denn die einfühlsame, intelligente und oft ins Ohr gehende Musik des Wiener Komponisten steht gleichrangig neben Habermehls Text. Ein hybrides Stück, das zwischen den einzelnen Gattungen permanent oszilliert. Und gerade deswegen so spannend ist.

Habermehl belässt das Geschehen in der kleinen tschechischen Gemeinde, in die auch Marie von Ebner-Eschenbach es einband, versetzt es ins Heute und streicht einige Figuren. So fehlt zum Beispiel die Schwester Pavels, die von der Gutsherrin auf ihre Kosten ins Kloster gebracht wird und dort letztendlich an Auszehrung stirbt. Aber auch der Vater, Urheber allen Übels und viele weitere Nebenfiguren, kommen bei Habermehl nicht vor. Dennoch ein kluger Schachzug, denn die Handlung muss sich im Musiktheater auf ein Minimum verknappen, wollte man nicht dem Publikum mehrere Stunden zumuten. Der Lehrer, der in der Romanvorlage ein kauziger, alter Mann und selbst nicht ins Gemeindeleben integriert ist, ist bei der Autorin weiblich. Katja Jung schlüpft in die Rolle von Frau Habrecht, die sich rückwärtsgewandt an die gute alte Zeit im Kommunismus erinnert. Als alles besser war, die Gemeinschaft noch eine Gemeinschaft und das Leben ganz klar im Jahresablauf getaktet erschien. Barbara Horvath gibt ihre Gegenspielerin Virgilova, die mit ihr um die Beherbergung von Pavel rittert. Nicht, weil sie, wie ihre Kontrahentin, einen sozialen Auftrag dazu fühlt, sondern weil sie das von der Gemeinde dafür zur Verfügung gestellte Pflegegeld gut brauchen kann. Klar arbeitet Habermehl die unterschiedlichen Charaktere und Motivationen der beiden Frauen heraus. Vinska, die Tochter von Virgilova, wird von Franziska Hackl dargestellt. Eine junge Göre, aufmüpfig gegen alle, aber auch gegen Peter, den sie in Ebner-Eschenbachs Version eigentlich abgöttisch liebt. Der Text macht klar, dass Pavel nur ein Kind von vielen ist, das auf der Straße lebt. „In Tschechien kommst du auf Platz 43!“ wird ihm drohend gesagt, als ihm der Einzug bei einer der beiden Frauen schmackhaft gemacht werden soll.

Peter (Florian von Manteuffel) und Pavel (Thiemo Strutzenberger) bleiben hingegen jene Kontrahenten, die sie auch in der Originalfassung sind. Strutzenberger spielt den jungen Fremdkörper in der Gemeinde als naiven Außenseiter, der sich in den gesellschaftlichen Normen überhaupt nicht zurechtfindet. Aber er ist nicht laut aufmüpfig. Vielmehr hinterfragt er mit einer gewissen Bauernschläue so manche Entscheidung der Erwachsenen und legt dabei seinen Finger immer die Wunde. Er folgt dabei in einer kleinen Szene zu Beginn einem zauberhaften Regieeinfall von Rudolf Frey, in der er seine krakelige Handschrift, die er der Lehrerin vorführen soll, mit kleinen Fußbewegungen im braunen Erdreich imitiert. Und als Ausflucht aus seinen trostlosen Lebensumständen wünscht er sich, ins Universum wegzufliegen und erst wieder zurückzukommen, wenn alle tot sind. Der Regisseur reduziert den Handlungsradius der Beteiligten auf ein Minimum und rückt die Musik dadurch verstärkt in den Vordergrund. Dennoch haben einige der Szenen eine enorme Kraft, wie jene, in der Peter von der Dorfgemeinschaft gepeinigt und drangsaliert wird. Resch schuf dazu eine Musik, die gemäßigt beginnt und sich zu einer furiosen, gewaltdurchtränkten Klangattacke hin entwickelt, in welcher alle Beteiligten außer sich geraten. Ein hörbar gewordener Blutrausch, den das Ensemble Phace und die Schauspielerinnen und Schauspieler mit Verve interpretieren. Von Manteuffel verleiht Peter jene psychologische Komponente, die ihn gegen Pavel nicht nur als Rivalen, sondern als eiskalten und gewalttätigen Charakter erscheinen lässt. Habermehl schafft es in ihrer Interpretation, die sozialen Zusammenhänge und das Gefüge der Gemeinde stark in den Vordergrund zu stellen. Dabei wird das Gemeindekind zu einer Art Katalysator vorhandener negativer Befindlichkeiten, die schließlich brutal ausbrechen.

Historische Musikgattungen in einem frischen Outfit

Die hervorragenden Musikerinnen und Musiker des Ensemble Phace sind die ganze Zeit über auf der Bühne sichtbar und fungieren dadurch als Teil der Gemeinde, zumindest jedoch als Mitwisser. Resch schreibt zwar jedem Charakter ein gewisses Instrument zu, gibt sich aber auch die Freiheit, hier keine absolute Stringenz durchzuziehen. Mit seinen eingebauten Landlern, Walzern und einem einprägsamen Kanon verwendet er historisch-musikalische Gattungen, die hervorragend in die rurale Umgebung passen. Auch Duette und Terzette baut er so geschickt um Habermehls Text, dass nicht mehr klar ist, wer hier wem die Vorlage lieferte. Dennoch klingt nichts Altbacken, aber auch nichts nach quälender Atonalität. In kunstvoller Weise verschränkt er den Beginn mit einem kleinen dissonanten Akkord mit dem Schluss, in welchem dieser wieder auftaucht. Im letzten Lied trauert der Chor über das Land, das ihm abhanden gekommen ist. Ein musikalisches Gustostückerl, das sich beim Nachhausegehen als Ohrwurm erweist. Die clevere Stimmführung von Resch ermöglicht es den Beteiligten, ihre eigenen Stimmlagen optimal zu nutzen und ohne Klimmzüge die Stimmbänder zu überdehnen oder anders auszureizen zu müssen. Dennoch eine große Herausforderung für Schauspielerinnen und Schauspieler, aber bravourös umgesetzt und in hohem Maße gelungen.

Das Bühnenbild von Vincent Mesnaritsch reduziert sich auf einen einzigen, offenen Raum, der durch Neonröhren nach oben begrenzt ist und auf dessen Boden eine dicke Schicht dunkle, braune Erde aufgeschüttet ist. Es entspricht in seiner Zurücknahme der Regieführung. Anne Habermehls Gemeindekind ist ein Zustandsbericht einer Dorfgemeinschaft, die keine Gemeinschaft mehr ist. Die Alten träumen von der Vergangenheit, die Jüngeren möchten endlich mehr Geld verdienen und die jüngste Generation sucht ihr Heil in der Disco und im Konsum elektronischer Geräte. Die Ausgeschlossenen sind selber schuld und werden nur als Störfaktoren begriffen. Pavels Flucht ist nur konsequent, wenngleich für ihn selbst verstörend. „Mein Herz das glüht, schmilzt nicht raus aus mir. In mir bin nur ich.“ Seine Einsamkeit trägt er mit sich, egal wo er auch hinläuft.

Eine gelungene Inszenierung, die aufzeigt, wie gut komponierte, zeitgenössische Musik in der Verschränkung mit einem aktuellen und intelligent geschriebenen Stoff zu einem sehens- und hörenswerten Ganzen verschmilzt.

Links:

Schauspielhaus
Anne Habermehl
Gerald Resch

Dr. Schiwago winkt aus der Ferne

Dr. Schiwago winkt aus der Ferne

Johnny Breitwieser. Eine Verbrecherballade aus Wien von Thomas Arzt (Text) und Jherek Bischoff (Musik)
Eigentlich hieß er Johann, was in Wien allgemein den Kosenamen „Schani“ nach sich zieht. Aber im 21. Jahrhundert rufen ihn alle Johnny. Den Breitwieser. Den Gauner und Womanizer, dem nicht nur die Frauen zu Füßen liegen. Es ist eine „schlechte Zeit“. Die Menschen haben nichts zu essen, der 1. Weltkrieg „zer-tötete“ und „zer-liebte“ gerade, was ihm unter die Waffen kam und die ersten großen Industrieunternehmen wie die Waffenfabrik Hirtenberger sahnten aus dem Elend der Menschen große Gewinne ab.

Johann Breitwieser kannte in Wien vor einhundert Jahren jeder. War er doch ein „Gauner mit Herz“  wie man heute sagen würde. Oder zumindest als Projektionsfläche für die arme Masse zu einem solchen hochstilisiert worden. Er starb 1919, ungefähr ein Jahr nach dem er aus dem Gefängnis ausgebrochen war und mit gestohlenem Geld das Leben eines Biedermannes führen wollte. Heute, rund 100 Jahre später, erlebt er seine Auferstehung am Schauspielhaus in Wien. Dafür schuf Thomas Arzt, mehrfach ausgezeichneter Dramatiker und im Haus in der Porzellangasse mit seiner Arbeit gern gesehen, einen dreistündigen Abend. Moritate mit angeschlossenem Schauspiel könnte man diesen kurz skizzieren. Denn nicht allein der Text macht hier die Musik. Für letztere zeichnet der Amerikaner Jherek Bischoff verantwortlich. Mit kesser 50er-Jahre Locke und bunter Blume am Revers saß er am Premierenabend samt Entourage im Publikum. Und genoss sichtlich nicht nur die singenden Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch das Ensemble Lux. Ein Wiener Streichquartett, spezialisiert auf zeitgenössische Musik, das vom Schlagzeuger Matthias Koch an den Percussioninstrumenten ergänzt wurde. Für wahr ein anderes Klangmedium, als es der junge Komponist sonst bedient. Denn es sind unter anderen Namen wie David Byrne oder Amanda Palmer, für die er sonst Musik schreibt.

Musik als Querverweis

Die Klang-Text-Kombination erinnerte stellenweise stark an die Dreigroschenoper von Brecht und Weill. Vor allem in jenen Nummern, in denen der Chor aus den Ensemblemitgliedern lautstark Propaganda gegen die herrschende Klasse und gegen den alles zerstörenden Krieg betrieb. Zusätzlich steuerte Bischoff so manchen Ohrwurm bei – im Marsch-, Polka-, oder Walzerrhythmus und hielt dabei den Klangraum vage zwischen Tonalem und Atonalem. Und – höchst interessant und vielleicht nur von „älteren Semestern“ erkannt – erklang immer wieder die Melodie von „Dr. Schiwago“. Jenem 65er Jahre Kinomelodram, das ein wahrer Blockbuster war und Millionen von Menschen in die Lichtspielsäle lockte. Die Verbindung liegt auf der Hand. Denn beides – die Geschichte von Breitwieser und jene von Dr. Schiwago spielt zur selben Zeit und vor allem vor dem Hintergrund der großen politischen Umstürze. Wien und Moskau – diese Achse spielte damals auch politisch eine wichtige Rolle. Wie in den „Schwestern“ von Tschechow ist es auch Breitwiesers Bruder, der so gerne „nach Moskau!“ möchte, den Absprung jedoch nicht schafft. So bleibt die Stadt der Revolution ein Traum, der sich in Bischoffs Musik widerspiegelt. Gewiss ist dieses Zitat als auch eine Reverenz an die Unterhaltung im Kino zu sehen, für die der Komponist häufig musikalisch zuständig ist.

Der Regisseur Alexander Charim nahm im Text von Arzt keine Striche vor. In Verbindung mit den vielen Musikeinlagen rückte er so das Spiel um den Mann, dessen früher Tod schon von Anbeginn an feststeht, beinahe in Eposlänge. Dass man dennoch seine Gedanken nicht abschweifen lässt, ist dem Ensemble zu verdanken, das spielt, als wäre das Gestern ein Heute. Dabei mutierte Schödl, Breitwiesers Widersacher und Vertreter der Staatsgewalt, plötzlich selbst zu seinem eigenen Bluthund. Genial, wie Florian von Manteuffel diese Doppelrolle zu spielen vermochte und sich in das Bein von Breitwieser (Martin Vischer) verbiss. Luise, im Programmheft „Das Volk“ betitelt, wird von Nicola Kirsch dargestellt. Charim rückt sie beinahe in die Rolle einer antiken, griechischen Seherin, deren wortgewaltige Gesellschaftsanalyse niemand hören will. „Staad schauend“ ist sie im Diktum von Thomas Arzt, „so staad wie das Land seit Jahrhunderten“, womit sie die eingefrorene Monarchie und ihre unbewegliche Gesellschaft kennzeichnet. Ihre Gegenspielerin Anne – trotzig zornig von Franziska Hackl interpretiert – wandelt sich vom Mädchen aus der Gosse zur Hausherrin, wenn auch nur für kurze Zeit. Greta (Katja Jung) ist jene reiche Witwe, zu der Breitwieser sich alleine schon aufgrund ihrer sozialen Stellung hingezogen fühlt. Ihr gewaltsamer Tod berührt ihn mehr als er seiner Familie zeigen darf. Martin Vischer als gewitzter Gauner, der das Leben über alles liebt und bei seinen Einbrüchen keinerlei Risiko scheut, brilliert an diesem Abend facettenreich. Als Verführer und Widerstandskämpfer, Gefangener und Suchender nach einem besseren Leben kann er alle schauspielerischen Register ziehen. Gideon Maoz als Wenzl, Breitwiesers Freund und schließlich auch sein Verräter, bewegt sich beständig in dessen Schatten, aus dem er so gerne hervortreten möchte, daran aber kläglich scheitern muss. Thiemo Strutzenberger tritt als Carl auf, der seinem Bruder Johnny zur Seite steht, wo er kann. Selbst kein Kind von Traurigkeit, lässt er sich in der Hochblüte seines Lebens auf jegliche noch so wilde Eskapade ein und stöckelt mit kessem Abendkleid, falschen Perlen und Highheels über die Bühne. Als Kriegskrüppel zeigt er einen geläuterten Charakter, in sich gekehrt, mit dicker Brille und dem von keiner falschen Moral geprägten Wissen, einst als „Engelmacher“ zum Wohl der Frauen beigetragen zu haben. Eine gebrochene Existenz, die dies auch in einem Gesangssolo ausdrückt, das er stimmlich nicht bewerkstelligen kann. Der Mut zum Scheitern wird hier überdeutlich.

Ein Bühnenbild zum Hören

Besonders hervorgehoben muss Ivan Bazak werden, der sowohl für die Ausstattung als auch für die Kostüme zuständig war. Er schuf einen zeitlosen Raum mit einem großen, quer über die Bühne verlaufenden Metallgestellt. Das war vertikal mit Plastik- und Metallstäben verstrebt, sodass die Schauspielerinnen und Schauspieler mühelos aufgrund der dehnbaren Seile zwischen Vorder- und Hintergrundgeschehen wechseln konnten. Darüber hinaus diente die Konstruktion auch als akustisches Instrument, das in seinem Einsatz eine einzigartige Soundkulisse bot.
Es ist gar nicht so sehr der historische Stoff, der an diesem Abend begeistert. Obwohl er auch einer gewissen lustvollen voyeuristischen Schau ins Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleichkommt. Die absolute Stärke der Inszenierung liegt in der Vereinbarkeit des Textes von Thomas Arzt nicht nur mit einer Musik, die – historisch betrachtet – das wienerische Klanggeschehen der letzten hundert Jahre komprimiert. Vor allem die zeitgeistige Inszenierung von Charim transferiert das Geschehen glaubhaft ins Hier und Jetzt. Die sozialen Spannungen, die Kumulierung des Kapitals und die Verdrängung der nicht wohlhabenden Bevölkerung aus den innerstädtischen Bezirken sind eins zu eins mit dem Geschehen vor hundert Jahren vergleichbar. Erst vor wenigen Monaten gab der Wiener Rapper Ardalan Afshar, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Nazar in einem Interview zu verstehen, dass der erste Wiener Bezirk für ihn und seine Freunde aus Favoriten immer ein Traum war, der für sie unerreichbar schien. Die eleganten Geschäfte, die schönen Häuser, da wollte er einmal hin – und Geld haben für all das, was die Konsumgesellschaft dort in den Schaufenstern bereithält. Nazar hat es geschafft. Im letzten Moment, vor einer kriminellen Karriere, wie er bereitwillig zugab.

Links:

Jherek Bischoff
Thomas Arzt
Alexander Charim
Schauspielhaus Wien

Eigentlich meinen wir alle etwas ganz anderes

Eigentlich meinen wir alle etwas ganz anderes

Alles fängt ganz harmlos an. Ein junges Paar spricht miteinander darüber, wie es seine Freunde dazu überreden wird, ihnen Geld zu geben. Finanziell am Ende, müssen sich Franziska (Barbara Horvath) und David (Simon Zagermann) gewaltig zusammenreißen, um diesen Canossagang anzutreten. Karsten – Dozent für Sozialanthropologie und Marianne, die als Volkswirtin arbeitet, leben in einer schmucken Wohnung und haben sich erst kürzlich auch eine kleine „Datscha“ zugelegt. Von den finanziellen Nöten ihrer Freunde wissen sie nichts. Und werden diesen Umstand auch bis am Ende des Stückes nicht erfahren.

Ein Kammerspiel der schwarzen Art

Bastian Sistig schrieb das Kammerspiel „Was es bedeutet baden zu gehen“ für vier Personen und erhielt damit 2012 den Publikumspreis für das Autorenprojekt stück/für/stück am Wiener Schauspielhaus. Nun gelangte es unter der Regie von Sebastian Schug, der auch für die Bühne verantwortlich ist, zur Aufführung. Die Intention des Autors war es, ein Gespräch von Menschen wiederzugeben, das unter der Oberfläche etwas beherbergt, was jedoch nie ausgesprochen wird. In diesem Fall ist es der Selbstmord von Franziska und David, sollte ihr Plan, sich an dieser Stelle Geld zu verschaffen, nicht aufgehen. Doch davon wird das Publikum erst in den allerletzten Minuten erfahren.

Zuvor jedoch liefert Sistig, 1990 in Berlin geboren, ein wahres Feuerwerk an schnellen, spritzigen, witzigen und bissigen Dialogen ab. Boulevardtheater vom Feinsten, ist man fast geneigt zu sagen. Wäre da nicht, ja wäre da nicht diese Bedrohung, die beinahe im Minutentakt zunimmt. Und mit ihr die Gereiztheit der Figuren. Schon wenige Augenblicke nach der Begrüßung kommt es zu den ersten Zusammenstößen zwischen den beiden Frauen. Ein verbales Aufeinanderprallen der Männer folgt alsbald, bis schließlich jeder mit jedem und jede mit jeder miteinander im verbalen Ringkampf steckt. Dabei hat Steffen Höld als weltfremder Akademiker eine dankbare Rolle, die er mit Bravour spielt. Sein Karsten bleibt so lange er kann wissenschaftlich-überheblich-korrekt. Erst als ihm Franziska seinen Alkoholkonsum vorhält, rastet er richtig aus. Barbara Horvath stichelt als Franziska wo immer sie nur kann und bringt mit einer kleinen Andeutung Karstens Ehefrau ganz aus dem Gleichgewicht.

Der Text von Sistig zeigt deutlich, wie indifferent Sprache ist und wie sehr ihr Verstehen ausschließlich vom Adressaten abhängt. Gerade in emotional aufwühlenden Situationen wird es sprachlich eng, wenn das, worüber eigentlich gesprochen werden soll, tatsächlich nicht gesprochen wird. „Nach Geld fragen wird immer schwierig bleiben…ich bin kein Mensch für sowas“ bringt David seine Not schließlich auf den Punkt. Er formuliert dies jedoch nicht gegenüber seinen Freunden. Vielmehr werden die wirklich erhellenden Sätze entweder nur in Selbstansprachen, maximal von Ehepartner zu Ehepartner geführt. Und das, während die jeweils anderen in eine Art „Gefrierzustand“ verfallen. Die Zeit scheint dabei angehalten. Noam Chomskys Generative Transformationsgrammatik, in ihrer sprachlichen Komplexität schwer verständlich, wird durch Sistigs Text wunderbar anschaulich. Sebastian Schug legt als Regisseur viel Wert auf eine metaphorische Körpersprache. So erhält zum Beispiel das immer wieder vorkommende Zusammenrücken der vier Personen, das Schulter-an-Schulter-Stehen, eine eigene Aussagekraft. Werden dabei doch die beiden Habenichtse von ihren Freunden buchstäblich in die Zange genommen. Ein kluges Bild, das gut ausdrückt, wie man sich fühlt, wenn man rhetorisch in die Zange genommen wird. Sein Bühnenbild beschränkt sich auf eine Sperrholzwand, die den Bühnenraum nach vorne extrem verengen und den Akteurinnen und Akteuren wenig Spielraum bieten. Dieser Minimalismus wird lediglich durch feine Musikuntermalungen gemildert, wie sie in Lounges zu hören ist. Sie ertönen immer dann, wenn Selbstreflexionen angesagt sind, wenn dem Kampf nach außen eine gedankliche Pause im Inneren entgegengesetzt wird.

Ein flottes Spiel aber die offene Frage nach dem Warum

Simon Zagermann wechselt mühelos zwischen lässiger und aggressiver Attitüde und lässt sich keinen Augenblick in seine finanziell so schlechten Karten blicken. Bei Barbara Horvath und Myriam Schröder in der Rolle der Marianne steht ein Zickenkrieg, der nicht zuletzt auf Eifersucht basiert, im Vordergrund. Horvath agiert dabei souverän sarkastisch, ausgestattet mit einem Mundwerk, dass einem die Angriffe nur so um die Ohren fliegen lässt. Schröder hingegen zeigt jenen Frauentypus auf, der ab einem gewissen Punkt einfach aufgibt und anmerkt, dass sich sowieso niemand für sie interessieren würde.

Die Begründung des bitteren Endes, in dem klar wird, dass David und Franziska Selbstmord begehen werden, überlässt Sistig zum größten Teil dem Publikum. Wenngleich das Programmheft den theoretischen Unterbau – angesiedelt im Versagen von Menschen im neoliberalen Kapitalismus – ansatzweise liefert. Eingedenk der Tatsache, dass sich der Großteil des Publikums keine Begleittexte mit nach Hause nimmt, kommen diese Querverweise letztlich auch bei den Wenigsten wirklich an. Ein meisterhaft gespieltes Quartett, dessen Text ein wenig mehr Erklärungsfutter vertragen hätte und dessen Regie ein wenig mehr in die Vollen greifen hätte können.

Ich will auf dem Laufenden bleiben

Per Mail jeden neuen Artikel erhalten!

Wühl nicht in den Seelen herum Betty!

Wühl nicht in den Seelen herum Betty!

Ein überdimensionaler römischer Jünglingskopf. Eine Filmleuchte. Abgenutztes Gartenmobiliar aus den 50er Jahren. Einige Töpfe mit grünen Plastiksträuchern und ein mit einem Vorhang geschlossenes Tor. Das ist da Bühnenbild (Johannes Weckl) von „Hunde Gottes“, dem dritten Stück von Thiemo Strutzenberger, das am Schauspielhaus in Wien Premiere hatte.

Seicht und philosophisch zugleich

Der Autor, der zugleich auch dem Ensemble des Hauses als Schauspieler angehört, untersucht darin die Gattung des Filmmelodrams der 50er Jahre. Zugleich aber stellt er sich dabei philosophische Fragen, die er hauptsächlich den Schriften von Gilles Deleuze entnommen haben dürfte, der sich auch als Filmtheoretiker einen Namen machte. Mit dieser Verquickung begibt sich Strutzenberger auf ein sehr glattes Parkett. Was in der Übersetzung eines melodramatischen Filmstoffes auf die Bühne noch gut funktioniert – weil hier vor allem der Humor jene Triebkraft ist, welche auf das Publikum wirkt – hinkt in jenen Stellen heftig, in welchen der Autor seine Figuren philosophieren lässt. Und das leider im Philosophiesprech des 20. Jahrhunderts. Einer Kunstsprache also, die an sich schon erlernt werden muss, um verstanden zu werden. Einer Sprache, die sich als höchst theateruntauglich erweist.

Ein Seitensprung gebiert Unfrieden

Der Plot der Geschichte ist in wenigen Sätzen umrissen. Die Frau eines Architekten, Betty Alighieri, selbst Schauspielerin, hat einen Sohn, der aus einem Seitensprung mit dem Gärtner hervorging. Katja Jungs Betty-Verkörperung gelingt schauspielerisch perfekt. Trotz ihrer zum Teil noch so emotional überzogen eingesetzten Phrasen wird sie zu einer Sympathieträgerin des Abends. Nur Simon Zagermann als Gärtner gelingt es auch, das Publikum ganz für sich einzunehmen und von seiner Naivität und Grundehrlichkeit zu überzeugen. Als unverbogener Charakter legt ihm Strutzenberger einen Text in den Mund, der sich leicht und flüssig gibt und dessen Kommunikationsziel einwandfrei nachvollziehbar bleibt. Steffen Höld als Ehemann hat es da schon etwas schwerer. „Wühl nicht in den Seelen herum, Betty!“ gibt er seiner Ehefrau zu verstehen, die sich unter anderem über die Abhängigkeit ihres Mannes von dessen Auftraggeber – Francesco Petrarca – Gedanken macht. Nach der Seitensprung-Offenbarung darf Höld lachwirksam in weiblichen Trauerkleidern auf der Bühne agieren und dabei jenen Akzeptanzspagat vollführen, der ihm bis dahin aufgrund seiner tiefsinnigen philosophischen Überlegungen verwehrt blieb. Sein Chef, Francesco Petrarca, wird von Florian Manteuffel als potenter Westernhut tragender Lässig-Macho verkörpert, dessen blitzblaues Hemd Auskunft über seine stilistischen Fehlgriffe gibt. Er bietet Laura, der Tochter des Gärtners, die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs, holt er sie doch aus ihrem Prostituiertenmilieu – „einleuchtend“ visualisiert durch eine Straßenlaterne im Lili-Marleen-Stil. Nicola Kirsch interpretiert die junge Frau als selbstbewusst, intelligent und freiheitsliebend und redet ihren „Retter“ wider ihres Willens in Grund und Boden. Dem Showdown, bei welchem Betty ihrem Sohn Leonardo (Gideon Maoz will jugendlich-trotzig nichts von seinem unstandesgemäßen Vater wissen) zuliebe den Gärtner ermordet, folgt ein kleiner, surreal angelegter Abgesang. Darin verwandelt sich der ermordete Liebhaber in ein Reh, das sich als Hund benimmt. Am Ende des Stückes ist es nicht ein Mensch, sondern das Tier, das Alighieri die wichtigsten Fragen seines Lebens stellen wird.

Alighieri und Petrarca als Menschen beinahe wie du und ich

Strutzenberger hat seine Akteure und Akteurinnen in höchst prominente Namen gekleidet. Dies – wie er im Begleitheft ausführt einerseits, als „Umbiegung der großen Geister, die der mittelalterlichen Hochkultur angehören, in die kleinbürgerliche, amerikanische Wohnzimmergröße des Wohlstandsmelodrams der 1950er Jahre“. Andererseits hat ihn die Zeit der Frührenaissance in Florenz besonders interessiert. Wenngleich – und das steht am Ende seiner Ausführungen hierzu – „die bürgerlichen 1950er-Jahre Nordamerikas und die italienische Frührenaissance nun wirklich nichts miteinander zu tun haben“.

Barbara Weber, die für die Regie verantwortlich ist, Elke Gattinger (Kostüme) und Arvild Baud (Musik) ist es zu verdanken, dass der anspruchsvolle Text von Thiemo Strutzenberger auch noch vergnüglich- bühnentauglich wird.

Was in der Erinnerung an diesen Abend bleibt, ist die bewusste Gegenüberstellung von artifiziellen, hoch komplexen Textpassagen zu jenen banalen Sätzen, die den Agierenden hundertfach in Melodramen in den Mund gelegt werden. Was bleibt, ist aber auch das Gefühl, dem Stück nur dann gerecht werden zu können, wenn man es auch gelesen hat. Eine zusätzliche Hausaufgabe des Autors also, die – soviel sei gefahrlos prophezeit – nur einige wenige Menschen aus dem Publikum tatsächlich auch erfüllen werden.

Pin It on Pinterest