Ich sehe unser Theater als eine Art Utopie

Ich sehe unser Theater als eine Art Utopie

Die neue Produktion, die die der Dschungel in Zusammenarbeit mit diverCITYLAB auf die Beine gestellt hat, trägt den Titel: „Nirgends in Friede. Antigone.“ Dabei haben Sie Regie geführt. Antigone kommt im Moment verstärkt auf die Bühnen. Hat das mit der aktuellen, politischen Situation zu tun?

Ja, schon. Antigone ist ja das Symbol des jungen, weiblichen Widerstands gegen eine ältere, männlich dominierte Gesellschaft. Sie steht zwar für junge Frauen, ich meine aber für junge Leute an und für sich. Zu dem Zeitpunkt, zu dem wir das Stück ausgesucht haben, gab es noch keinen Trump und keinen Erdogan, der gemeint hat, er müsste alle Macht an sich reißen. Aber es war schon alles in Vorbereitung und am Laufen. Aber schon im arabischen Frühling, auf den sich das Stück bezieht, waren es die Frauen, die sich als Allererste auf den Platz gestellt haben. Und auch in der Türkei waren es zuerst die Frauen, die gegen das Vergewaltigungsgesetz auf die Straße gegangen sind. Nachdem fünf von den Darstellern türkische Wurzeln haben, ist dieses Thema jetzt noch aktueller. Der Demokratiebegriff ist da vermehrt ins Spielgekommen, sei es in Europa mit der Türkei, die ja behauptet, im Gegensatz zu ihnen sei Europa so undemokratisch geworden. Da haben die jungen Leute jetzt noch einen ganz anderen Bezug dazu.

Nirgends in Friede. Antigone. c Rainer Berson 4

Nirgends in Friede. Antigone. (c) Rainer Berson

Aber ich finde, es zeigt einfach ganz viel. Aber man hat ja auch bei Trump gesehen, wer da schlussendlich auf die Straße gegangen ist, das waren die Frauen. Für mich war es auch wichtig ein Stück zu finden, mit dem junge Menschen etwas zu sagen haben. Das war mir auch ein Anliegen, weil das diverCITYLAB eine politisch sehr motivierte Gruppe ist. Das ist eine Institution, die gesellschaftspolitisch agiert und nicht nur auf dem herkömmlichen Weg ausbildet. Uns war klar, dass wir das Stück mit seinen vielen Facetten und Erzählungen in seiner ganzen Breite gar nicht bringen können und es musste sehr, sehr, sehr viel gestrichen werden. Und ich habe dann, weil das generell ein wichtiger Anteil meiner Arbeit ist, den persönlichen Bezug – es ist ja für Jugendliche ab 16, also für junge Erwachsene – gefragt, wo ist der Bezug zu ihnen? Was ich nicht so interessant finde, ist, ihnen einen Klassiker einfach so hinzuschieben, bei dem sie mit diesem schweren Textanteil dann einfach bombardiert werden und das unterrichtsmäßig abgehandelt wird. Ich finde eher das Aufbrechen und der persönliche Zugang, sowohl von den DarstellerInnen als auch dem Publikum, die Frage – was hat das überhaupt mit uns zu tun – wichtig für Theater für junges Publikum. Das Stück hat auf jeden Fall etwas mit der eigenen Situation zu tun.

Dieser Zugang zum Theater ist ja ein Charakteristikum von Ihnen.

Ja, so ist es.

Für sie ist ja die Beschäftigung mit Theater für junges Publikum, wie es jetzt auch im Dschungel genannt wird, ihr Hauptthema.

Seit es den Dschungel gibt auf alle Fälle. Aber mein Hauptthema war ja schon immer Frauen und der Gender-Aspekt. Es ging mir z.B. bei allen Boys-Stücken, die ich gemacht habe, um einen feministischen Blick, der aber nicht nur mit Frauen, sondern mit Menschen an und für sich zu tun hat.

Stoßen Sie eigentlich bei jungen Frauen mit Migrationshintergrund, die ja oft ein anderes Frauenbild von ihrer Familie vermittelt bekommen haben, bei ihrer Arbeit auch auf Widerstände?

Eigentlich nicht. Man darf diese jungen Frauen nicht unterschätzen, die wissen, was läuft. Diese jungen Frauen sind hier aufgewachsen, die leben vielleicht in zwei verschiedenen Welten, aber die wissen ganz genau, was hier abgeht. Diesbezüglich leben sie vielleicht auch in einer gewissen Diskrepanz, zumindest was ich erlebe. Sie sind aber auch nicht auf den Mund gefallen und wissen sich auch zu verteidigen und ihre Meinung zu sagen. Und ich denke, das stärkt sie in dem Moment, wenn sie andere Bilder von jungen Frauen im Theater sehen und um das geht es mir. Und für junge Männer, die vielleicht ein bisschen ein „eigenwilliges“ Frauenbild haben, haben wir ja auch ein Stück präsentiert. Bei „Blutschwestern“ gab es tatsächlich junge Männer, egal ob migrantisch oder nicht-migrantisch, die sich in Publikumsgesprächen entschuldigt haben. Die sind aufgestanden und haben gesagt: „Das ist nicht o.k., wie wir Frauen behandeln.“ Sie sind richtig betroffen gewesen.

Blutschwestern 3c Rainer Berson

Blutschwestern (c) Rainer Berson

Oder es gab auch junge Männer, die gesagt haben: „Oh mein Gott, ich fühl` mich jetzt eigentlich nicht wirklich gut.“ Es ging nicht darum, dass sich Männer nicht gut fühlen, es ging auf gar keinen Fall darum, dass Männer nicht in Ordnung sind. Sondern das ist ja immer so, dass wenn man für eine Sache spricht, heißt es ja nicht automatisch, dass man gegen eine andere antritt. Das wird oft so gedeutet und dagegen verwehre ich mich immer ganz deutlich. Wenn ich für Frauen spreche, dann spreche ich eben für Frauen und nicht gegen Männer und wenn sich ein Mann dadurch angegriffen fühlt, dann hat das mit ihnen zu tun und nicht mit der Ausgangssituation, mit der sie konfrontiert werden. Es sind 16, 20, 25-jährige junge Männer, Familienväter gekommen, zum Teil an den Wochenenden, sogar ohne ihre Kinder, nur weil sie es sehen wollten. Das zeigt eher, worum es mir geht.

Ich hatte jetzt bei einer Vorstellung der Antigone, in der ich nicht drin war, offensichtlich Stimmen von jungen Männern, die während der Aufführung reingebrüllt haben: „Was ist das für eine linke Scheiße!“ Mein Produktionsassistent hatte mir gesagt, dass ihm aufgefallen sei, dass die das identitäre Zeichen angesteckt hatten. Das habe ich so noch nicht erlebt.
Vielleicht, weil das jetzt ein Stück für 16 plus ist. Es waren aber nicht Menschen mit Migrationshintergrund, die da riefen, sondern Menschen aus Gymnasien, aus einem höher gebildeten Umfeld und das finde ich interessant, wenn dann so etwas kommt. Leider war ich an dem Tag nicht da.

Sie als Theatermacherin verfolgen ja einen politischen Standpunkt.

Ja, dem kommen wir ja nicht mehr aus!

Wie gehen Sie denn abseits ihrer eigenen Produktionen vor, die einen gesellschaftspolitischen Anspruch haben. Wonach suchen Sie sich die freien Gruppen aus, die im Dschungel auftreten?

Es kommt erstens ein bisschen auf die Altersgruppe an. Wir haben ein Stück für 1 bis 3-Jährige, da geht es um ganz andere Dinge, um die ersten Worte. Aber es gibt auch im jüngeren Bereich ganz viele Möglichkeiten, gesellschaftspolitisch zu agieren. Ein ganz wesentlicher Teil dabei ist für mich: Wer steht auf der Bühne. Bevor irgendetwas erzählt wird, erzählt das schon am Allermeisten. In welcher Position sind Menschen, die weiß, von ihrer Herkunft „bio-österreichisch“ sind, wenn ich das so ausdrücke, auf der Bühne? Ich mag es überhaupt nicht, von weiß zu sprechen und habe dafür eigentlich gar keinen richtigen Begriff. Aber welche Funktion haben sie auf der Bühne, das ist die Frage. Das kann man von Null bis Hundert durchziehen. Ich sehe die Besetzung ja nie so, dass aufgrund von Haar- Hautfarbe oder schlussendlich des Geschlechtes irgendeine Rolle zugeordnet sein muss. Bei der Besetzung von Antigone stand auch nicht die Herkunft, der Akzent oder das Aussehen im Vordergrund, sondern vielmehr, ob die Rolle zur Persönlichkeit des Schauspielers oder der Schauspielerin passt, oder nicht. Im Film ist diese Art der des Type- Castings ja ganz stark. Als dunkler, arabisch-türkisch-stämmiger Typus spielt man eher dann einen Drogendealer, Flüchtling oder den Türken.

Bis wir das in dem Medium einmal besprochen haben, da geht ja noch einmal was weiß ich welche Zeit ins Land. Das hat mit dem Verismo (Realismus )zu tun, wie man eine Gesellschaft abbilden möchte. Das machen wir nicht. Ich sehe unser Theater als eine Art der Utopie. Dinge anders zu sehen, anders zu benennen, anders zuzuordnen. Das ist ja auch die Kraft des Theaters, deshalb mache ich Theater, weil ich weiß, da kann ich ganz anders agieren, da habe die Möglichkeit, Dinge auch ganz anders zu behaupten, oder andere Bilder zu kreieren.

Sind da die Kinder und Jugendlichen prädestinierter, das offen aufzunehmen?

Zum einen muss man sagen, dass das Publikum durch die Schulklassen schon generell gemischt ist. Bei Gruppen ab 10, 12 Jahren, fragen die aus dem Publikum immer, wenn SchauspielerInnen unterschiedlicher Herkunft auf der Bühne sind: „Woher kommst du? Aha, dein Vater ist von dort und deine Mutter von da. Ja, meine Mutter ist auch von dort, aber mein Vater ist von dort“. Die vielen interkulturellen Eltern, bei welchen beide Teile aus anderen Kulturkreisen kommen, sind für mich heutzutage die Normalität. Die ist aber, außer im Tanz, in dieser Form auf den deutschen Bühnen noch sehr zurückhaltend zu finden. Ganz selten und vereinzelt wird jemand unabhängig der Hautfarbe oder Herkunft besetzt. Für mich ist das aber selbstverständlich, darum geht es mir. Obwohl ich das auch nie thematisiere. Dasselbe gilt für mich, wenn Menschen mit Behinderung auf der Bühne stehen, wie z.B. Adil, der bei mir und in vielen anderen Produktionen schon gespielt hat. Da geht es aber nicht um seine Behinderung, sondern um seine Persönlichkeit, die etwas zu sagen hat. Es geht um das Selbstverständnis, wie er sich innerhalb der Gruppe bewegt. Darum geht es mir. Ich versuche, das immer wieder zu sagen: Das ist so wichtig und so stark – das ist für mich das stärkste politische Zeichen, das ich überhaupt setzen kann und möchte, das ich supporte und forciere und auch immer wieder die anderen Gruppen darauf hinweise.

Boys Awakening c Rainer Berson 3

Boys Awakening (c) Rainer Berson

Ich habe schon den Eindruck, dass die Kinder sehr viel offener sind, was die Vorurteile und ihre eigenen Gefühle in Bezug auf Gerechtigkeit, Wahrheit, Lüge betrifft. Wie wir wissen, sind die Kinder ja alles keine Heilige, sind oft ungerecht und gemein zueinander. Aber im tiefsten Inneren verstehen sie diese ganzen Machenschaften. Sie können ja noch nicht nachvollziehen, warum jemand so oder so zu jemandem ist. Ich habe immer das Gefühl gehabt: Mein eigenes Kind ist farbenblind in der Schule. Der sieht nur, wie jemand ist und nicht, wie jemand aussieht. Je älter sie aber werden, wird das durch die Zuordnung der Schulen, durch das Trennen, anders aufgeteilt. Je nachdem in was für eine Schule man geht, gibt es Unterschiede. Aber mehrheitlich passieren dann andere Dinge wie wir wissen, denn da wird die Gesellschaft ja schon geformt oder zugeordnet, wer zu wem wohin gehört. Insofern glaube ich schon, dass sie eine größere Offenheit haben. Sie sind noch nicht so festgefahren auf irgendeine Meinung.

Wie ist es Ihnen denn im Laufe der letzten Monate in und mit der neuen Aufgabe als Leiterin des Dschungel gegangen?

Das Erste, was ich dazu sagen kann ist: Ich habe dafür 20 Jahre trainiert und ich kann alles, was ich hier brauche. Ich kann Buchhaltung, ich weiß, wie man eine Gruppe leitet, ich kann mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen, mit unterschiedlichen Künstlern, die Organisation habe ich ja 20 Jahre lang gemacht. Ich habe mich hier hingesetzt und es war eigentlich genauso wie früher, nur habe ich jetzt das Gefühl, dass ich mein Know-how auf einer sehr viel breiteren Ebene weitergeben kann. Dabei bin ich in meinem Verständnis als ältere Kollegin tätig, mache viel dramaturgische Beratung bei verschiedenen Gruppen. Mir ist überhaupt der Austausch, die Kommunikation mit den Künstlerinnen und Künstlern der Gruppen ein total wichtiges Anliegen, auch was das Inhaltliche betrifft. Wir reden einfach miteinander. Natürlich haben sie ihre Ideen und wir reden dann weiter darüber. Oder ich habe zum Beispiel ein Jahresmotto, das mir wichtig ist. Damit meine ich einen offenen Begriff, was dann auch etwas macht, ohne dass ich will, dass Leute Stücke explizit dafür machen. Ganz im Gegenteil.

Können Sie das Motto der nächsten Spielzeit schon nennen?

Ja, das Motto der nächsten Spielzeit kann ich schon sagen, es heißt: Wer rettet die Welt? Das ist auch ein bisschen ironisch gemeint, auch augenzwinkernd, aber auch sehr ernsthaft. Dabei habe ich gemerkt, dass dieses Thema sofort etwas auslöst. Dadurch habe ich das Gefühl, dass wir sehr viel gemeinsam an einer Sache arbeiten. Ich glaube, alle Gruppen hier am Haus sind sich bewusst, dass wir hier ein Theater mit einem gesellschaftspolitischen Anspruch machen.

Corinne Eckenstein c Rainer Berson

Corinne Eckenstein (c) Rainer Berson

Sie sehen den Dschungel als ein ganz besonderes Haus mit einem ganz besonderen Auftrag.

Ich glaube, dass gerade dieses Theater kultur- und gesellschaftspolitisch so wichtig ist, weil wir wirklich Menschen erreichen, wo kein anderes Theater hinkommt. In der Musik am ehesten noch, aber sonst gibt es das nicht. Und gerade da gilt es doch, am allermeisten zu investieren. Ich will mich nicht beklagen, aber die Notwendigkeit und Wichtigkeit dieses Hauses hier, wird nicht richtig gesehen. Alleine schon wo dieses Haus liegt, an der besten Kulturadresse Wiens. Es wird international gesehen und ich habe immer wieder, wenn Leute von auswärts kommen, die glauben gar nicht, dass es so etwas gibt. Es ist einzigartig in dieser Form. Man könnte ein bisschen mehr damit leuchten und Wirkung nach außen setzen. Das vermisse ich halt leider nach wie vor, weil es halt „nur“ Theater für Kinder und Jugendliche ist. Das verstehe ich nicht. Die Umverteilung der Fördermittel macht es uns nun zusätzlich schwer, Kooperationen einzugehen. Vielen der Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, wurden die Förderungen auf Null gekürzt. Das heißt, ich weiß noch nicht wirklich, wie wir hier weiter zusammenarbeiten können, weil hier das Geld nun definitiv fehlt.

Gibt es etwas, was Sie sich für die nächsten vier Jahre vorgenommen haben, was hier noch nicht implementiert ist?

Ja, noch eine größere Publikumsdurchmischung. Mit noch mehr Projekten unterschiedlichster Menschen und unterschiedlichster Herkunft. Mit noch mehr KünstlerInnen, die hier arbeiten. Des Weiteren ist es für mich auch wichtig, dass ein breiteres Angebot von Null bis über Zwanzig stattfindet. Aber auch noch eine stärkere, dafür stehe ich ja auch ein, Beteiligung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit angehenden Künstlerinnen und Künstlern dieses Haus weiter beleben. Ich möchte weiter dieses Haus als Stätte des Self-empowerments und Agierens anbieten. Da sind wir jetzt schon dabei mit dem Projekt Generation 16+. Wobei mir ganz wichtig ist, dass das auf einem professionellen Level passiert. Es geht auf gar keinen Fall darum, sogenannte Schüleraufführungen zu machen. Da ich ja selber schon seit ewig so arbeite, mit dieser Mischung aus Profis und Jugendlichen und Kindern auf der Bühne, auf einem ganz hohen Level, gibt es hier schon Regisseure, Regisseurinnen und Choreografinnen, die das weiterentwickeln und weiterverfolgen, das aufnehmen und die auch die Kapazität dafür haben. Auch diese Gleichwertigkeit auf der Bühne ist natürlich auch ein ganz klares, politisches Zeichen für mich. Hier sind nicht Kinder nur einfach Kinder oder Jugendliche einfach Jugendliche. Das sind alles Menschen, die eine Stimme haben und diese auf eine künstlerische und gesellschaftspolitische Weise formulieren. Und das in Zusammenhang mit Profis hebt natürlich auch das Niveau einer Produktion. Hier steht niemand auf der Bühne, nur weil es niedlich ist. Niedlichkeit ist nicht angesagt. Sondern ich möchte ein lebendiges, anspruchsvolles Theater.

Würden Sie den Satz unterschreiben: Theater kann etwas bewirken?

Auf jeden Fall! Es hat bei mir als Jugendliche viel bewirkt, sonst würde ich hier nicht sitzen.

Bewirkt es heute bei Ihnen auch noch immer etwas?

Ja, sonst könnte ich hier nicht sitzen!

Zu fleischgewordenen Exceltabellen finde ich keinen Zugang

Zu fleischgewordenen Exceltabellen finde ich keinen Zugang

Sportlich muss man sein, um Martin Schwanda besuchen zu können. Seine helle Altbauwohnung liegt im dritten Stock eines Hauses nahe am Naschmarkt. Ohne Lift. Einmal die Stiegen erklommen, steht die Türe für meinen Besuch schon weit offen.

Martin Schwanda ist ein kommunikativer Mensch. Herzlich, offen, witzig, spritzig aber auch nachdenklich und empathisch. Vor wenigen Jahren sah ich ihn bei einer Aufführung des Salon5 das erste Mal auf der Bühne in Camera Clara. Man muss Schwanda nur einmal gesehen haben, um zu wissen, dass er ein Schauspielkapazunder ist. Am besten kann er dies in seinem One-man-Auftritt beweisen, in dem er am 15. März in der Roten Bar des Volkstheaters wieder brillieren wird.

Schwandas Paraderolle-n in der Hochstaplernovelle

Hochstaplernovelle 03 c Christian Mair Kopie

Hochstaplernovelle (c) Christian Mair

In der Hochstaplernovelle von Robert Neumann spielt er nicht nur die Hauptrolle, sondern verkörpert darin alle Personen, egal ob männlich oder weiblich. Ein Stück, wie gemacht für diesen speziellen Raum im Wiener Traditionstheater, wird es doch inmitten des Publikums gespielt und fügt es sich auch zeitlich extrem gut in die Programmatik dieser Saison. „Der Text ist schon ein Wahnsinn, wenn man da einmal falsch abbiegt, dann kommt man irgendwo ganz anders raus!“, erklärt Schwanda halb belustigt, halb ehrfurchtsvoll, was die zu bewältigende Textmasse betrifft. „Wir (gemeint ist das Team des Salon5) haben das Stück ja auch schon als Hörspiel aufgenommen, das wir bald veröffentlichen werden. Deswegen hatte ich den Text auch bei meiner letzten Reise in Venedig mit dabei. Da ich allein war, konnte ich es mir dort bei meinen Spaziergängen über Kopfhörer anhören, was ja schon ganz lustig war, zumal das Stück unter anderem auch in Venedig spielt. Ich habe den Text ganz in mich aufgesaugt und entdecke immer wieder noch neue Schattierungen und Finessen.“

Die ersten Theatererfahrungen

Wenn man Schwanda über seine Rolle reden hört, kann man kaum glauben, dass er einmal knapp daran war, die Schauspielerei ganz sausen zu lassen. Nach dem Abschluss am Reinhardt Seminar kam er hochmotiviert in Augsburg ans Theater, um dort seinen ersten Dämpfer zu erhalten. Er empfand den Umgang miteinander dort extrem lieblos, die Bestzungen ohne jegliche Verantwortung für die Schauspieler ausgesucht. Er wollte nur spielen und das, was er gelernt hatte, ausprobieren, sich bedingungslos in Rollen hineinschmeißen und war todunglücklich, unpassende Rollen zugeteilt bekommen zu haben. Erst nach dem Wechsel der Leitung besserten sich für ihn die Umstände, sodass er insgesamt vier Jahre in Augsburg spielte. Zu spüren, dass ihn jemand wirklich dort am Theater wollte, das war für ihn eigentlich das Wichtigste.

Schon damals zeigte sich sein Unabhängigkeitsdrang, denn als die Schauspielleitung wieder wechselte, wechselte auch er von sich aus und ging nach einem kurzen Intermezzo in München an die Shakespeare Company nach Bremen. „Mit dem Ensemblegedanken von Max Reinhardt infiziert – einer für alle, alle für einen – war ich dort sehr gut aufgehoben.“ Es waren sechs glückliche Jahre, in welchen er das Ensemble mitgestalten konnte. „Ich hatte den Schlüssel vom Theater, was für mich ein Symbol war. Denn ich hatte das Gefühl, ich könnte um zwei Uhr nachts dort aufsperren, auf die Bühne gehen und Saxofon spielen, wenn ich wollte, was ich auch gemacht habe.“ Die Mitbestimmung, wer neu ins Ensemble aufgenommen wurde, oder welche Gastregisseure verpflichtet wurden, war ihm sehr wichtig. „Wir hatten auch anstrengende und aufregende Gastspiele, einmal sogar durch Indien. Dabei habe ich ganz schön viel gelernt. An einem Tag spielten wir in einem Riesensaal, am nächsten in einer Kulturscheune in der Pampa, wo der Bühnenboden schief war und alles immer wegrollte.“ In diesem kleinen Ensemble war es gang und gäbe, mehrere Rollen zu verkörpern, rasch hinter den Vorhang abzugehen und als jemand ganz anderer Sekunden später wieder aufzutreten.“ Im Rückblick betrachtet, war das die beste Schule für eine herausfordernde Rolle wie jene des Hochstaplers und all der anderen Rollen in dem Stück, die Schwanda so mit Leib und Seele verkörpert.

Die Liebe zum Spiel mit Masken

Auch heute noch reist er viel und gerne, beruflich und privat und hat dabei gelegentlich nicht nur seinen Text mit, sondern immer auch seine Kamera. S/W-Fotos sind seine Stärke, was auch viele Portraitaufnahmen von Freunden zeigen. An den Wänden im Wohnzimmer hängen Aufnahmen – aus Venedig – mit maskierten Menschen. Kein Zufall, denn Masken haben für den Schauspieler eine ganz besondere Anziehung. Vor wenigen Jahren inszenierte er sein erstes, eigenes Maskenspiel Amour Fou mit großem Erfolg im WUK und Kosmos-Theater und möchte an diesen Erfolg auch bald wieder anknüpfen. Am Wohnzimmertisch liegen braune Ledermasken, frisch aus Venedig mitgenommen. „Da gibt es ein kleines Geschäft, in dem ein Maskenbauer nach alten Vorbildern Masken für die Commedia dell`arte aus Leder fertigt, die ich dort einfach kaufen musste. Für mich als Schauspieler ist es ein Ideal, hinter einer Figur zu verschwinden und sie ganz und gar zu verkörpern. Mich reizt es, zu tun als ob, in eine andere Figur zu schlüpfen und die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, als ich sie so sehe. Das hat viel mit Empathie zu tun. Sich hineinzufühlen in jemanden, der in einer bestimmten Situation ist, etwas Bestimmtes tut, etwas Bestimmtes isst, in einer bestimmten Gegend wohnt und dabei zu spüren, wie sich das anfühlt. Als guter Schauspieler braucht man ein psychologisches Fingerspitzengefühl. Wenn man als Schauspieler sichtbar bleiben möchte, dann funktioniert das Spiel mit den Masken nicht. Ich finde aber gerade diese Arbeit sehr interessant. Eigentlich sind das Hochpräzisionswerkzeuge. Masken vergrößern in ganz unglaublicher Weise jede einzelne Aktion. Da genügt eine kleine Veränderung, ein Zentimeter in der Bewegung und schon ist die Aussage eine ganz andere. Interessant wird es immer dann, wenn das Publikum die Masken gar nicht mehr sieht, sondern die Figur im Vordergrund steht. Obwohl es beim Spielen mit Masken auch eine ganz knochentrockene Ebene gibt, bei der es egal ist, was du gerade denkst oder fühlst. Du kommst rein, bleibst stehen, hältst inne, zählst 21, 22, 23, drehst den Kopf schnell nach links, zack, kratzt dich langsam am Ohr und allein das erzählt schon eine Geschichte. Ich mag diesen handwerklichen Aspekt des Theaters auch gerne. Das hat viel mit Rhythmus und Musikalität zu tun.“

Von der Wichtigkeit des Handwerklichen

Auf die Frage, wie sehr man mit einer Rolle selbst verschmelzen muss, gibt der Schauspieler eine verblüffende Antwort.

„Ich finde das immer ein Märchen, eine Koketterie, wenn man nach der Vorstellung sagt: Ich bin noch nicht wirklich wieder da und ich bin noch auf so einer Reise. Mir geht es zumindest nicht so, dass ich die Schleuse in die Realität jemals nicht gleich wiedergefunden hätte. Ich finde es super, auch einmal hinter dem Vorhang rumzublödeln, dann rauszuspringen und voll drin zu sein. Klar braucht man Konzentration, aber vor einer Szene drei Stunden an meine tote Großmutter denken, damit ich in eine tiefe Emotion komme, das brauche ich nicht. Wenn ich als Figur genau weiß, was ich will, wenn ich mir genau vorstelle, in welcher Situation ich gerade bin und was das bedeutet, dann passieren die Emotionen ganz von alleine. Eine Emotion ist eigentlich nur ein Abfallprodukt einer klaren Handlung. Das zu wissen, entspannt viele sehr. Denn dann muss man nicht mehr Gefühlen hinterherjagen, sondern nur klare und konkrete Handlungen überlegen. Ich habe mich immer gerne auch körperlich neu erfunden. Ein anderes Muster wiedergegeben, einen anderen Rhythmus, andere Körperbewegungen, die Essenz eines Wesens zu erwischen und wiederzugeben und auf meine eigene Körpersprache zu übertragen, das macht mir großen Spaß. Wenn man es schafft, dass man hinter der Maske ganz verschwindet, oder übertragen im Theater eben hinter der Figur, wenn jede Pore zu dieser Figur wird, dann ist es toll. Ich mag die Abende lieber, wo ich die Schauspieler vergesse und mit den Figuren und dem Stück mitleben kann. Es gibt ja Kollegen, die sagen, ich bleibe immer ich, ich musiziere einfach einen Text, manches Mal in Grün, in Blau oder in Glitzer, aber ich bleibe immer ich. Auch das kann Kraft haben, aber ich bin da eher altmodisch. Beim Unterrichten oder auch beim Regieführen schreibe ich ja manches Mal mit und wenn ich dann vergessen habe, mitzuschreiben und nur gedacht habe: Hoffentlich geht´s gut aus, ganz naiv, dann habe ich gewusst, das waren die großen Momente.“

Die Bühnen außerhalb des Theaters

Schwanda innen

Martin Schwanda (c) Andrea Klem

Schwanda ist ein Vielseitiger. Ob als Schauspieler auf Bühnen fix engagiert, wie er es in jungen Jahren in Augsburg und in Bremen an der Shakespeare Company war oder – was ihm ganz besonders liegt – als Gast an großen Häusern oder in einer schurkischen TV-Rolle in einem Tatort. Ob als Coach, der Unternehmern oder angehenden Wirtschaftsleuten in ihrem Studium beibringt, dass Schauspiel nicht nur auf der Bühne, sondern tagtäglich mit uns allen und in uns allen passiert. Oder ob als Lehrer, wie derzeit in einer Verpflichtung als Rollenlehrer für 8 Wochenstunden am Max Reinhardt Seminar, seiner eigenen Ausbildungsstätte, mit der er sich sehr verbunden fühlt. Immer sind es die Mittel des Theaters, die in seiner Arbeit im Zentrum steht und die er auch abseits der Bühnen vermittelt. In ein reines, lokales Theaterkorsett eingezwängt zu sein, ist nicht wirklich Seines. Ohne Bühne zu agieren aber auch nicht.

„Ich bin heilfroh, nicht um Rollen betteln zu müssen, oder von einer einzigen Institution abhängig zu sein. Selbst inszenieren, unterrichten, in einem tollen Team wie dem Salon5 immer wieder mitarbeiten zu können, dann wieder wie jüngst im Volkstheater in einer schönen Rolle als Gast aufzutreten – dabei fühle ich mich wirklich wohl.“ Diese Arbeitsweise hat auch etwas mit seinem familiären Umfeld zu tun. Seine beiden Kinder wohnen bei ihrer Mutter in Norddeutschland und so bleiben für die gemeinsame Zeit mit ihnen nur die Ferien und Wochenenden übrig.

„Dass sich mein Sommerengagement am Thalhof in diesem Jahr so wunderbar ausgeht und ich mit meinen Kindern zusammen sein kann, darüber bin ich wirklich froh“, erklärt der Familienmensch sichtlich erleichtert. Vor die Wahl gestellt, auf der Bühne zu agieren oder die wenige Zeit, die er mit seinen Kindern hat, gemeinsam intensiv zu verbringen, entschied sich Schwanda bis jetzt immer für seine Kinder. Mit einer kleinen Einschränkung: „Manches Mal kann ich am Wochenende nicht zu ihnen kommen oder muss einen vereinbarten Termin verschieben, wenn es beruflich überhaupt nicht anders machbar ist. Aber ich achte sehr darauf, den Kontakt mit meinen Kindern so intensiv wie möglich zu gestalten.“

Arbeiten außerhalb des Theaters erweitert den Horizont

Zu seinen Aufträgen in der Wirtschaft hat Schwanda einen ganz besonderen Zugang. „Auch in der Wirtschaft geht es wie im Theater darum, einen Inhalt zu verpacken. So eine Arbeit abseits des Theaters wird von manchen Kollegen gering geschätzt, mit dem Argument, dass es den Künstlern am Theater ja nur um die Kunst gehen müsse. Es gibt da auch viele Vorurteile und Berührungsängste. In beide Richtungen. Ich möchte aber gelegentliche Ausflüge in andere Arbeitswelten nicht missen, weil es meinen Horizont erweitert und ich viel mehr von der Welt mitbekomme, was ich dann wieder auf meine Theaterarbeit übertragen kann. Das ist für mich das Spannende daran. Es gehört für mich beides dazu, das Arbeiten im Theater oder am Film und das Arbeiten draußen, mit Menschen, die nicht vom Theater sind, aber mein Wissen und meine Erfahrung davon brauchen können. Wenn du einen guten Inhalt hast, musst du auch schauen, dass er in einem schönen Licht steht. Das ist sonst so, als ob man ein schönes Bild hätte, das in einem dunklen Raum ohne Rahmen steht und nicht beachtet wird. Das ist genau das, was ich mit diesen Leuten auch mache, den Inhalt ihrer Arbeit so gut zu verpacken, dass er auch dementsprechend wahrgenommen wird. Mit ihnen an ihrer Präsenz arbeiten und daran, Selbstvertrauen zu bekommen ins eigene Tun, in die eigene Präsenz, das ist dabei meine Aufgabe.“

Schwanda unterrichtet seit einigen Jahren auch an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. Mit den Studierenden des Studiengangs „Musikvermittlung“ arbeitet er an einer guten Bühnenpräsenz und Auftrittsgestaltung. Und er hält an der FH Wien pro Semester eine Lehrveranstaltung rund um nonverbale Kommunikation und Auftrittsgestaltung ab.

„Dabei geht es mir darum, den Leuten zu zeigen, dass es nicht immer perfekt zugehen muss, etwas auch einmal einen Sprung haben kann. Mich interessiert es dann, wenn es menschlich wird, mich berühren auch Leute mehr, die loslassen können und zeigen können, dass sie nicht immer so toll sind. Menschen, die einmal ausatmen können und bei denen man dann draufkommt: Aha, das ist ja auch nur ein Mensch wie ich, vielleicht einer, der gerne etwas Anderes machen möchte, der vielleicht einen Beruf hat, der ihm nicht gefällt, aber im Grunde sich dasselbe wünscht wie ich auch.“

Das Glatte, Perfekte, Verkopfte mag Schwanda nicht

Das Aalglatte liebt Schwanda überhaupt nicht, aber nicht nur, wenn er an gewisse Wirtschaftstypen denkt, an „fleischgewordene Excel-Tabellen“, wie er sie nennt, zu denen er keinen Zugang findet. Aber er schätzt das Glattgebügelte auch am Theater nicht. „Das Glatte, Perfekte, Verkopfte mag ich überhaupt nicht. Egal ob in der Wirtschaft, in der Politik oder im Theater: Wenn Menschen als Menschen nicht wirklich etwas zu sagen haben und nur ihr eigenes Ego vor sich hertragen, dann interessiert mich das überhaupt nicht. Gutes Theater muss mich einfach berühren. Es kann toll sein, einem Schauspieler zuzuschauen, der handwerklich toll ist, bei dem man sich denkt: Wahnsinn, was kann der noch alles machen?!, aber diese Faszination lässt schnell nach, wenn das nicht mit Seele unterfüttert ist. Auch in der Wirtschaft und in der Politik ist das so. Leute, die sich nicht hinter ihrer Fassade verstecken oder an ihren Krawatten anhalten müssen, sondern auch ihre Unvollkommenheit zeigen können, sind jene, die wir alle viel mehr akzeptieren und die auch glaubhafter sind.“

Unterrichten bedeutet auch, das Selbstwertgefühl zu stärken

Schwanda sieht seine Aufgabe im Unterricht am Reinhardt Seminar auch darin, den Leuten das Gefühl zu vermitteln, dass sie von Haus aus grundsätzlich voll in Ordnung sind. „Neben der Vermittlung des Handwerks und der Erfahrungen und der Herangehensweise an Rollen, versuche ich, Ihnen auch Vertrauen in sich selbst zu geben. Ich möchte ihnen zeigen, dass es nicht darum geht, immer perfekt zu sein, sondern zu seiner eigenen Persönlichkeit zu stehen. Die jungen Studenten und Studentinnen am Reinhardt Seminar wollen ja ganz viel und werden auch ordentlich hergenommen, weil es eine sehr persönlichkeitsfordernde Ausbildung ist. Da geht es schon sehr an die Grenzen. In Einzelgesprächen merke ich oft, dass viele von ihnen tief im Inneren nervös und unsicher sind und immer wieder sogar auch Angst haben, das aber nach außen nicht so zeigen. Wenn man mit ihnen dann darüber spricht, sind sie ganz überrascht, dass es den anderen – und auch mir immer wieder – auch so geht, denn sie denken, dass sie der oder die einzigen wären, die sich so fühlen. Mein Ideal ist es, dass sie, wenn sie ihren Abschluss gemacht haben, neben der hohen handwerklichen Professionalität auch an Sicherheit gewonnen haben und zu sich stehen können, so wie sie sind und auf der Bühne ihr künstlerisches Potential voll entfalten können. Dass sie als starke künstlerische Persönlichkeiten mit einem gesunden Selbstbewusstsein das Reinhardt Seminar verlassen. Und was den handwerklichen Aspekt des Rollenstudiums betrifft, hab` ich große Freude daran, Ihnen sowohl den Umgang mit Sprache, mit Musikalität, mit Rhythmus, als auch mit sehr körperlichen Spielweisen und Figurengestaltungen zu vermitteln. Weil mir das liegt und Freude macht. Auch da kommt mir meine Beschäftigung mit Masken sehr zugute. Ich nehm` immer mal wieder welche mit in den Unterricht und wir experimentieren damit herum. Und es ist großartig, was die Masken aus den Studierenden rausholen, ohne dass ich irgendetwas mache. Und das macht Spass und befreit, wenn man mal zu verschreckt oder zu sehr im Kopf ist. Oder wenn es zu psychologisch wird.

Ein Häuschen im Grünen

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Hochstaplernovelle, Martin Schwanda (c) Christian Mair

Auf die Frage, ob er nicht gerne an einem bestimmten Haus fix engagiert wäre, antwortet Schwanda: Wenn ich sehe, dass Kollegen von mir große Karriere an einem großen Haus gemacht haben und eine große Bekanntheit erlangt haben, dann denke ich mir manches Mal, ob ich das nicht auch haben hätte können. Aber dann sage ich mir wieder: Ich habe auch etwas vorzuweisen. Halt etwas Anderes. Würde ich unbedingt an einem bestimmten Theater sein wollen, dann wäre ich es wahrscheinlich auch, denn ich bin schon ein ziemlicher Berserker, der sich holt, was er haben will. Aber ich kenne auch genug KollegInnen, die fix an tollen Häusern engagiert sind und auch nicht wirklich Freude damit haben. Die können sich vielleicht auch noch ein Häuschen im Grünen leisten und bekommen im Caféhaus einen besseren Platz, aber glücklicher als ich scheinen sie auch nicht zu sein. Ich habe mit meinem Lebensmodell zunehmend meinen Frieden gefunden, weil es mir so eine enorme Vielseitigkeit ermöglicht. Ich tu` das ja auch nicht aus einer Not heraus, sondern aus dem tiefen Interesse, auch mit Leuten zusammenzukommen und zusammenzuarbeiten, die aus einem ganz anderen Kontext kommen. Das ist für mich letztlich als Schauspieler auch Futter ohne Ende.“

Die letzte Frage, warum gerade Unterrichten für ihn in seinen vielen Schattierungen so interessant ist, offenbar einen ganz persönlichen Hintergrund.

„Ich glaube, weil ich das selbst nie wirklich ausreichend hatte. Oder erst sehr spät. Einen Mentor, der hinter mir steht. Ein Vorbild, jemand, der mich an der Hand genommen hat und mir gesagt hat: Ich zeig dir einmal was. Das fängt schon mit der eigenen Familie an – ein Vater, ein Onkel, ein großer Bruder, der sagt: Heute zeige ich dir, wie man raucht und morgen, wie man Bier trinkt.“ Schwanda lacht herzlich. „Die führende Kraft, die vermittelt: ich bin der Erfahrene, Ältere, du bist voll in Ordnung und ich war auch einmal jung und ich zeig dir jetzt wie´s geht, die hat mir in vielen Situationen gefehlt. Ich glaube, dass ich andere Leute gut machen kann, weil mich in meinen jüngeren Jahren nie jemand gut gemacht hat. Ich bin da so sensibilisiert darauf, weil ich genau weiß, was fehlt und welche Unsicherheiten da sind. Inzwischen habe ich viele Themen für mich gelöst, aber die Sensibilität für diese Probleme ist mir geblieben. Ich sehe einfach sehr schnell, wenn jemand vor sich davonläuft oder wenn jemand so tut als ob. Wenn jemand auf der Bühne rumfuchtelt, das aber nicht wirklich meint, dann sehe ich das schnell. Dann versuche ich ein wenig Ruhe in das Spiel zu bringen, die Leute mehr zu erden und den Leuten das Vertrauen zu geben, dass es das alles gar nicht braucht. Aber auch umgekehrt den Bescheidenen sagen: Du darfst dich ruhig auch einmal bemerkbar machen und dir deinen Platz erobern! Ich musste sehr oft Stücke und Rollen spielen, bei denen ich dachte: Was hat sich die Regie dabei jetzt wieder ausgedacht? Ich fang` mit dem Text, dem Stück und den Kollegen nix an und finde auch den Regisseur blöd und ich mag das nicht machen, aber ich muss. Da muss man dann aber eine eigene Haltung finden, um dem Ganzen noch einen Sinn zu verpassen. Manchmal war das dann eine spielerische Fingerübung, bei der ich mir sagte: Gut, dann mach ich da zumindest eine freakige Figur daraus, die es so noch nicht gegeben hat, wurscht welche Aussage das jetzt hat, weil Aussage kann ich da jetzt auch nicht mehr reinpappen. Ein anderes Mal war es so, dass ich mir gesagt hab: Es ist wichtig, dass die Menschheit das gesehen hat. Und wenn sie nur sagt, der Typ da hatte was, auch wenn sie alles andere gleich vergessen hatte. Diese Eigenverantwortung für die eigene Theaterarbeit finde ich auch wichtig, zu vermitteln. Wenn ich jemanden im Unterricht übernehme, dann mache ich mich zum Anwalt für diese Person. Leute die es auf die Bühne zieht, wollen gesehen und wahrgenommen werden und wenn ihr Lehrer sie dabei nicht ernst nimmt, stärkt das nur die eigenen Ängste.“

Das Gespräch mit Martin Schwanda führte Michaela Preiner.

Das Meerschweinchen Mucki

p.s.: Während des Schreibens konnte ich mich nicht mehr genau an die Anzahl der Stockwerke erinnern, die ich zum Interview erklommen hatte und fragte daher kurz per SMS an, im wievielten Stock der Schauspieler wohne und ob es auch ein Mezzanin gäbe:

Hier seine Antwort, die ich nicht vorenthalten möchte:

Sehr interessante Fragen: …mein erstes Meerschweinchen hieß übrigens Mucki (von Nepomuck), unsere Schildkröten Pünktchen und Anton, und meine beiden (!) Hamster Niki. Ich hatte übrigens auch Kaulquappen, einen Molch und Mäuse (alle selbts gefangen)……..falls das noch wichtig ist.

Wer Martin Schwanda bei seinen nächsten Auftritten sehen möchte, dem sei seine höchst originelle Homepage empfohlen.

Eine gewisse Nervenstärke ist nicht ganz schädlich

Eine gewisse Nervenstärke ist nicht ganz schädlich

Der Deutsche Florian Hirsch ist seit 2011 einer der Dramaturgen am Burgtheater. Wir sprachen mit ihm über sein Arbeitsgebiet und die Voraussetzungen, die man für diesen Beruf mitbringen muss.

Das Burgtheater hat mehrere Dramaturgen. Wie ist denn hier die Arbeitsaufteilung? Hat jeder von Ihnen Schwerpunkte, oder verteilen Sie von Saison zu Saison die Arbeit untereinander?

Wir sind vier Dramaturgen. Unter Federführung der Direktorin wird die Saison jeweils festgelegt. Die Aufteilung hängt tatsächlich mit zeitlichen Kapazitäten zusammen, das ist ganz pragmatisch. Es gibt aber auch immer wieder Kontinuitäten in der Regie-Dramaturgie-Beziehung. So etwas versucht man natürlich, aufrechtzuerhalten. Wenn man sich kennt, geht`s meistens einfach besser.

Mit 16 war Hirsch auf der High-School in Amerika und hat in Berlin Germanistik und Nordamerikanistik mit dem Schwerpunkt amerikanische Literatur studiert.

Greift man aus diesem Grund bei Produktionen, die auf englischen Texten basieren, gerne auf Ihre Hilfe zurück?

Ja, ich mache das gerne, und kulturelle und sprachliche Kenntnisse sind natürlich hilfreich, da man ja meist am Text das eine oder andere auch noch ändern muss. Ich habe einfach einen guten Zugang zu amerikanischen Stoffen und Stücken.

War es von Haus aus Ihr Berufswunsch, Dramaturg zu werden?

Während des Studiums in Berlin habe ich schon viel Off-Theater gemacht und habe relativ schnell erkannt, dass ich nicht in die Wissenschaft möchte, sondern dass ich mit Texten praktisch arbeiten möchte. Dann bin ich über Hospitanzen da reingerutscht und hab entdeckt, dass das etwas ist, was mir gut liegt.

Florian Hirsch war am Maxim-Gorki-Theater in Berlin Assistent und hat dort mit Regisseuren gearbeitet, die auch in Wien gearbeitet haben. Insbesondere war es Stefan Bachmann, der ihn nach Wien empfohlen hat.

Sind Sie glücklich in Wien?

Ja!

Möchten Sie nicht mehr zurück nach Deutschland?

Sollte ich Wien jemals verlassen müssen, was ja passieren wird, werde ich es mit großen Schmerzen tun. Es ist ja immer so, dass die Dramaturgie an die künstlerische Leitung gekoppelt ist.

Können Sie in einem Satz beschreiben, was ein Dramaturg macht – für all jene, die keine Ahnung haben?

Die Frage wird mir oft gestellt und ist auch legitim, weil die meisten Leute tatsächlich nicht wissen, was ein Dramaturg macht. Es ist auch schwer zu beschreiben, die Arbeitsaufgaben sind auch nicht immer gleich. Ganz grob gesagt, würde ich die Aufgabe in zwei Hälften teilen. In der einen Welt des Dramaturgen wählt er – gemeinsam mit der Intendantin – Stoffe und Stücke aus, entwickelt Konzepte für die Spielzeit, Besetzungen, engagiert Schauspieler und Regisseure, erledigt vieles, was die operative, künstlerische Leitung eines Hauses ausmacht, bis hin auch zu Marketingaufgaben.

Die andere Welt ist die Produktionsdramaturgie. Das hängt sehr, sehr davon ab, mit welchem Regisseur man gerade zusammenarbeitet. Inwieweit man da involviert ist, ob man viel auf den Proben ist. Bei „Hotel Europa“ wurde gemeinsam mit dem Regisseur und den Schauspielern das Stück überhaupt erst entwickelt. Da ist die Herausforderung eine größere, als wenn man ein well-made-play auf die Bühne bringt. Es ist von Regisseur zu Regisseur völlig unterschiedlich, wie weit er auf die Arbeit eines Dramaturgen zurückgreift, inwieweit er das zulässt und möchte. Auf jeden Fall ist ein sehr großer Teil meiner Arbeit, die Produktionsdramaturgien zu machen. Ich bin dabei viel im Arsenal und hier im Haus auf Proben.

Was ist für Sie das Spannendste in Ihrem Beruf?

Grundsätzlich ist es die Arbeit mit sehr, sehr vielen interessanten Menschen, die den Beruf spannend macht. Begegnungen, die man in der stillen Schreib- oder Lesestube nicht hat. Und dass man sich mit Weltliteratur und Stoffen, die einen bewegen, zu tun hat. Das ist für mich das Elementare.

Der Umgang mit Menschen ist ein großer Teil seines Jobs. Ein Teil, der sich oft gar nicht so sehr auf den Inhalt der jeweiligen Produktion bezieht, der aber eher „Kenntnisse psychologischer Natur erfordert.“

Braucht man gute Nerven?

Ja.

Vornehmlich in welchen Situationen?

Ich würde das gar nicht negativ sehen. Eine gewisse Krisenhaftigkeit gehört einfach zum künstlerischen Entwicklungsprozess. Es gibt Regisseure, die am Anfang sehr langsam in die Gänge kommen und je näher die Premiere rückt, desto größer wird natürlich der Druck. Dann muss man in kürzester Zeit noch viele, schnelle Entscheidungen treffen und ganz kurz vor der Premiere noch Veränderungen machen, manchmal sogar noch am Tag der Premiere. Dafür ist eine gewisse Nervenstärke nicht ganz schädlich.

Gibt es Regisseure oder Regisseurinnen, mit denen Sie gerne arbeiten würden?

Ich hätte gern einmal mit Christoph Schlingensief gearbeitet. Und mit Sam Peckinpah.

Wie viele Produktionen betreuen Sie pro Jahr?

Das ist unterschiedlich, aber normalerweise sind es etwa vier.

Der Rechercheanteil Ihrer Arbeit ist nicht unerheblich. Wie hoch schätzen Sie ihn ein?

Das kann man schwer sagen. Das ist ein fließender Prozess. Während der Proben und danach sitzt man mit dem Regisseur zusammen, liest gemeinsam Texte, Sekundärliteratur und dergleichen und es hängt tatsächlich immer sehr vom Stoff ab. Es gibt Stücke, für die man nicht allzu viel Recherche braucht und andere, die ein ganzer Kontinent von Recherche sind. Wir haben hier im Haus aber auch Unterstützung. Rita Czapka, die für Recherche und Archiv zuständig ist oder Referentinnen in der Dramaturgie oder gute Assistenten und Assistentinnen, man muss ja nicht alles alleine machen.

Gibt es dabei auch erkenntnishafte Momente, in welchen es auch schon einmal „bing“ macht?

Im Idealfall ja, das passiert aber leider nicht immer.

Läuft man da durchs Haus und ruft: „Ich habwas, ich hab was!?“

Ja, oder man läuft in den Volksgarten und freut sich! Aber, wie schon gesagt, ich sitze mit den Regisseuren auch nach der Probe oft zusammen und wir reflektieren, was da überhaupt passiert ist und was wir am nächsten Tag machen werden. Egal, ob man davor ein noch so gut ausgefeiltes Konzept gehabt hat, kristallisiert sich oft dieser Erkenntnispunkt, den man eigentlich sucht, ohne es zu wissen, erst im Laufe der Proben heraus. Wenn es solche Momente gibt, dann hat man die meistens nicht alleine, sondern erlebt sie gemeinsam im Austausch miteinander.

Was war denn bei „Hotel Europa“ die absolute Herausforderung?

Zuerst einmal war es eine sehr komplexe Stück- und Stoffsuche. Wir haben verschiedene, auch ganz herkömmliche Stücke geprüft. Ursprünglich hatten wir einmal die Idee, „Hotel Savoy“ zu machen, waren dann aber davon abgekommen, weil auch Antú Nunes der Meinung war, dass dieser Roman für ihn nicht ganz ausreicht, um auf der Bühne was damit zu erzählen. Das war noch vor den großen Flüchtlingsströmen, da war die Griechenlandkrise gerade in der Luft – da sind wir immer zu dem Thema Europa zurückgekommen. Dann haben wir irgendwann einmal gesagt, Joseph Roth ist jemand, der uns heute etwas über Europa erzählen kann, über das Europa von gestern, heute und morgen. Vor dem Hintergrund des Untergangs der k. und k. Monarchie, welche, sehr grob gesagt, ja eine Art Europäische Union „avant la lettre“ dargestellt hat, in ihrer Vielsprachigkeit und Übernationalität.

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Florian Hirsch (c) Reinhard Werner

Natürlich war es ein autokratisches System, aber es gab schon gewisse Ansatzpunkte wie das Wiener Parlament, in dem eine Vielzahl an Sprachen gesprochen wurde. Da sind die Parallelitäten ja frappierend. Und der Heimatverlust, die tiefe Einsamkeit und Vereinsamung der Figuren bei Joseph Roth hat uns sehr interessiert. Wir wollten das Stück nicht nur mit einem Roman machen. Zumal ja oft zu Recht gesagt wurde, dass Joseph Roth eine einzige, große Erzählung geschrieben hat. Was man daran sieht, dass viele Figuren immer wieder auftauchen und dass es immer wieder ganz klar besetzte Themen gibt. Deswegen haben wir gesagt, wir können, gemeinsam mit den Schauspielern, einen eigenen Abend auf der Basis von Texten von Roth, aber auch anderen Texten wie solchen von Zweig oder aktuellen wie von Prof. Dr. Fischer, dem deutschen Bundesrichter, oder auch mit Improvisationen, die aus der Probenarbeit eingeflossen sind, machen. Wir hatten zu Probenbeginn sehr viel gelesen und ausgewählt, aber keine fertige Textfassung. Nicht einmal ansatzweise. Das war dann ein Prozess, den wir gemeinsam in einer Art Siebverfahren, gemeinsam mit den Schauspielern, letztlich bis zur Premiere verfolgt haben.

Ist ein Stück, das auf diese Weise gemeinsam erarbeitet wird, dann so etwas wie „Ihr Baby“?

Es ist „unser Baby“ und tatsächlich man hat mehr Vatergefühle als zum Beispiel bei Klassikern, das ist richtig. Und das Stück liegt mir ja wirklich sehr am Herzen.

Warum sollten sich denn die Leute Hotel Europa ansehen?

Weil dort auf ganz besondere Weise vier Schauspieler zusammen eine große Geschichte mit relevanten Themen erzählen. Sie erschaffen dabei eine eigene Welt, die sehr viel mit der Lebenserfahrung von heute zu tun hat. Es ist ein politischer, aber auch ein sehr poetischer Abend. Ein Abend, den viel mehr Menschen sehen sollten, auch gerade, um die Arbeit von Antú Romero Nunes hier zu würdigen.

Das neue Stück „GEÄCHTET“, das Sie dramaturgisch betreuten, spielt in New York, verhandelt aber Fragen, die gerade auch in Europa brisant sind. Sind Sie der Meinung, dass dieser örtliche Abstand dem Publikum den Blick und die Beurteilung auf das Thema erleichtert?

Ich glaube nicht, dass die örtliche Distanz dem Publikum den Blick erleichtert. Trotz seiner universellen Botschaft spielt das Stück in einem US-amerikanischen Kosmos, wurde in pointiertem amerikanischen Englisch verfasst, und eine große Aufgabe für die Inszenierung war es daher zunächst einmal, den Transfer in die deutsche Sprache, auf eine deutschsprachige Bühne zu schaffen. Das Ziel der Regisseurin Tina Lanik war es, mit den Schauspielern ein derart klares Bewusstsein für die verhandelten Probleme zu erreichen, dass sich diesen großen Themen wie Religion, Integration und Identität auch in Wien niemand entziehen kann. Ich denke, dass ist ihr sehr gut gelungen.

Wird die Wahl von Donald Trump und der allgemeine, europäische Rechtsruck einen Einfluss auf die Auswahl der künftigen Stücke haben, die Sie aussuchen und betreuen werden?

Klare Antwort: Ja! Das Theater muss sich gerade in gefährlichen und unübersichtlichen Zeiten, in denen „postfaktisch“ zum „Wort des Jahres“ werden kann, unbedingt dem öffentlichen Diskurs stellen. Es muss sich auflehnen und Fragen formulieren. Ob man dies nun mit relevanten Gegenwartsstücken oder mit Shakespeare macht, wird man von Fall zu Fall sehen. Ich bin jedenfalls froh, dass wir mit GEÄCHTET nun ein wirklich packendes, aktuelles Stück, das sich mit fundamentalen gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzt, auf der großen Burg-Bühne spielen.

Würden Sie jungen Kolleginnen oder Kollegen, die Literatur- oder Theaterwissenschaften studieren raten, in die Dramaturgie zu gehen?

Wenn sie eine Leidenschaft fürs Theater haben und gute Nerven, wenn sie wenig Schlaf brauchen, dafür lange Sommerferien haben wollen, ja!

Belehrungen halte ich nicht aus

Belehrungen halte ich nicht aus

Martin Gruber hat vor Kurzem den Nestroypreis für die Arbeit „Kein Stück für Syrien“ entgegengenommen. Nun ist er für das nachtkritik.de-Theatertreffen mit dem Stück „Jeder gegen Jeden“ nominiert. Nach anfänglichen, harten Jahren erntet er nun die verdienten Früchte für seine spezielle Theaterarbeit mit dem aktionstheater ensemble.

In unserem Gespräch erzählt er über den Spaß an seiner Arbeit, wie er seine Schauspielerinnen und Schauspieler aussucht und seine tiefe Abneigung gegen Belehrungen.

Was bedeutet Ihnen der Nestroypreis?

Der Sinn dieses Preises ist es, „noch“ mehr Menschen ins Theater zu bringen – das funktioniert sehr gut! Persönlich befriedigt so eine Auszeichnung natürlich die Eitelkeit. Ungeachtet dieser Tatsache, werden wir selbstverständlich weiterhin unbequem sein.

Sie haben vor der Arbeit „Kein Stück über Syrien“ eine ganze Trilogie gezeigt.

Ja, das war Pension Europa, Angry young man und Riot Dancer. Die Arbeit an der Trilogie ergab sich nach und nach. Zuerst das Frauenstück „Pension Europa“, dann die Arbeit mit den Männern „Angry young men“ dazu schließlich ein Stück, in dem beide Geschlechter zusammengeführt wurden, „Riot Dancer“.

Pressefoto PENSION EUROPA c Felix Dietlinger aktionstheater ensemble 5

Pension Europa aktionstheater ensemble (c) Felix Dietlinger

Wie ist denn der Werkprozess von den Stücken? Kommt die Idee von Ihnen selbst?

Ich habe eine Grundidee, bespreche die einerseits mit dem Dramaturgen Martin Ojster, aber auch mit dem Ensemble. Das Miteinander, dieser gemeinsame Prozess ist mir sehr wichtig. Ich bin jemand, der sich gern austauscht. Niemand, der zu Hause sitzt, da schlaft mir das G`sicht ein!

Das heißt, beim Reden kommen die Leut` zam!

Ja genau! Ich brauche die Kommunikation face to face, Internet geht bei mir gar nicht. Beruflich muss es halt sein, aber ich finde es völlig unsinnlich, grauenhaft. Wir waren ja die ersten als Theater, die in Facebook waren und wir wussten natürlich, dass das wichtig ist. Nicht zuletzt auch in der Auseinandersetzung mit jungen Leuten, was mir ganz wichtig ist. Es ist eh klar, dass ich alle Altersschichten ansprechen möchte. Für junge Leute ist Theater ja oft etwas Anachronistisches, was ich auch verstehe. Mir geht das ja auch oft im Theater so, dass ich mir denke, was hat das denn jetzt mit uns zu tun! Ich habe ja selbst auch den Sophokles rauf und runter inszeniert, aber irgendwann stellt sich dann die Frage: Worum geht es jetzt eigentlich? Was will ich mit dem Theater spiegeln?

Wie haben Sie denn Ihre Truppe formiert? Sie arbeiten zum Teil ja immer wieder und beständig mit Leuten zusammen. Wie suchen Sie Menschen aus, die zu Ihrem Ensemble passen?

Ja, aber es kommen auch immer wieder junge Leute dazu, dass das wieder aufgefrischt wird. Aber es formierte sich in den letzten Jahren ein Grundstamm an Künstlern und Künstlerinnen, mit denen man eine gemeinsame Sprache spricht. Mir ist ganz wichtig, dass ich die Sprache der Leute verstehe, wenn wir arbeiten. Was ist zum Beispiel ein Kommentar, was nicht? Was ist Schauspielattitüde und wo wird es wirklich ernst? Wo darf man in die Komik gehen, ohne dass es zum Klamauk wird? Wo ist etwas nur ein platter Witz und wo darf auch der sein, wenn es danach einen Bruch gibt? Die Sprache, die wir dabei versuchen zu entwickeln, bedingt eine Truppe von Leuten, die das auch wollen und verstehen.

ANGRY YOUNG MEN c Gerhard Breitwieser 7

Angry young men aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser

Es gibt drei Kriterien, die für mich ausschlaggebend sind, wenn ich jemanden neu aufnehme: Gesellschaftspolitisches Bewusstsein, soziale und künstlerische Kompetenz. Mir ist natürlich wichtig, dass bei den Schauspielerinnen und Schauspielern, mit denen ich arbeite, die Qualität stimmt. Danach kommt schon die Frage: Was will diese Person inhaltlich? Wer zum Beispiel sagt: Ich will Schauspielerin sein, weil ich berühmt werden will!“, antworte ich einfach: „Ja, dann geh` ins Burgtheater!“. Mir ist es wichtig, wenn die Leute darüber nachgedacht haben, was sie zu sagen haben und mit welchen, ganz persönlichen Mitteln sie etwas in die Gesellschaft einbringen und künstlerisch etwas beitragen können. Und vor allem natürlich auch ihre Sozialkompetenz. Das bedeutet: Kann sich jemand ins Ensemble einfügen, ist es ihm oder ihr bewusst, dass es sich um Ensemblearbeit handelt? Ich brauche keine Zicken, kein Stargetue, selbst wenn jemand tatsächlich ein Star ist.

Man hat den Eindruck, dass Sie jemand sind, der davon überzeugt ist, dass Theater etwas bewirken kann. Stimmt das?

Wenn ich ganz ehrlich bin – ja, ja natürlich! Gruber lacht herzlich. Ich drösel Ihnen das auf: Ich hab` natürlich ein Problem damit, von vornherein mit der Flagge der moralischen Anstalt zu wacheln. Da schrillen bei mir schon sämtliche Alarmglocken, weil die Gefahr der Betulichkeit irrsinnig groß ist. Ich bekomme die Krise, wenn mir jemand die Welt erklären möchte. Mir geht es umgekehrt zuerst einmal darum, dass ich einmal gar nichts weiß. Wir wissen alle gar nichts. So fange ich an. Wenn man gesellschaftspolitische Prozesse verstehen will, geht es darum, sich die Menschen in ihrem Verhalten und ihrer Vielfalt anzuschauen. Das heißt, je divergenter, je allumfassender ein Bild ist, je mehr Gesellschaftsschichten ich covern kann, desto eher komme ich mit der Zeit zu einem gewissen Punkt, an dem ich ein bisschen einen Überblick bekomme. In der Politik bedient man heute Partikularinteressen. Die Schwarzen bedienen die Banker, die Roten die Eisenbahner, je nach Inhalt hat jeder seine Klientel. Aber der gesamte Gesellschaftsentwurf, finde ich, fehlt. Das hat was damit zu tun, dass ich auch das Gesamte sehen muss und kann. Und je weiter ich vom Wald weg bin, desto eher sehe ich seine Gesamtheit oder kann ich ihn vielleicht irgendwann einmal sehen, präziser gesagt. Ich glaube, dass das Durchleben von Prozessen am Theater schon etwas kann, weil ich in einer bestimmten Radikalität auf der Bühne viel weiter gehen kann als viele Menschen, die unten sitzen. Das heißt, wenn die Frauen in Pension Europa schamlos an ihren Speckschwarten rumfummeln, das sage ich jetzt ganz bewusst so, und dabei so sein dürfen, wie sie sind, dann habe ich von Frauen erlebt, dass sie das unglaublich dankbar aufgenommen haben. Es waren Frauen im Publikum, die richtig gerührt waren. Wir wollen dabei ja auch vermitteln: Ich darf sagen, was ich will, was mit Substanz, aber ich darf auch richtig danebenhauen, richtigen Topfen reden. Das ist schon eine Form der Katharsis – obwohl das ein Schlagwort ist, bei dem ich mir denke: Oje, Kitschalarm!

Man hat den Eindruck, dass sie eine Leichtigkeit im Arbeiten erreicht haben, wissen, wo Sie stehen, was Sie können.

Ja, das stimmt, aber man scheißt sich auch immer wieder an. Diese beiden Dinge stehen nebeneinander. Ich würde mich in manchen Situationen als ziemlich ängstlichen Menschen beschreiben, aber wo ich es überhaupt nicht bin, ist beim Arbeiten. Sonst ginge es auch nicht.

RIOT DANCER c Gerhard Breitwieser 1

Riot dancer aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser

Wollten Sie immer Theater machen?

Als Jugendlicher wollte ich Filmregisseur werden, habe aber dann Schauspiel studiert. Ich bin ganz froh, dass ich das Handwerk gelernt hab, weil ich deshalb glaube zu wissen, was möglich ist.

Ich kann mir vorstellen, dass zwischen Ihnen und den Schauspielerinnen und Schauspielern sehr viel Vertrauen herrscht. In den Inszenierungen geben diese ja auch immer etwas preis von sich. Erzählen Dinge, die vielleicht gar nicht leicht zu erzählen sind. Braucht das eine Zeit, bis das soweit ist, dass sich die Leute so öffnen können?

Ja, das ist ganz extrem bei Susanne Brandt so. Sie ist die Schauspielerin, mit der ich am längsten zusammenarbeite. Sie kam von Dresden an die Josefstadt noch unter Boy Gobert. Dort gab es eine Umstrukturierung und ich hab`, als ich sie kennenlernte, sofort erkannt, welches Kaliber sie ist. Für ihre erste Rolle habe ich mit ihr drei Stunden nur an ihrem Gang gearbeitet, das war dann auch schon zum Teil urkomisch. Aber wir haben gewusst, dass wir miteinander können und über die Jahre hat sich daraus eine richtige Liebe und ein Vertrauen entwickelt, dass in einem Stadt- oder Staatstheater so auf die Schnelle einfach nicht möglich ist. Das erlebe ich aber auch bei den Jungen. Da geht es um eine bestimmte Form des Vertrauens, dass sie wissen, sie werden aufgefangen. Wenn etwas so ist, dass sie sagen: „Das geht nicht mehr!“, dann akzeptiere ich das. Ich kratze natürlich schon so lange wie es geht und bekomme auch fast alles, aber wenn es partout nicht geht, ist das ok. Neben dem Vertrauen geht es aber, so altmodisch das klingt, um liebevollen Umgang miteinander. Damit kommt man viel weiter, kann viel weiter gehen, als das sonst der Fall ist.

Wie würden Sie Ihren Regiestil beschreiben?

Wir sind eine repräsentative Demokratie. Also ich werde gewählt, als der, der sagt, was wir tun müssen. Dann hat der Martin (Erklärung: Martin Ojster) gesagt: Naja, ich würde eher von einer liebevollen Diktatur sprechen! Gruber lacht abermals herzlich. Aber wenn ich es genauer beschreiben würde, dann reicht mein Regiespektrum von ganz viel zulassen am Beginn, bis schließlich sogar den Blick choreografieren. Ich versuche zu schauen: Was interessiert mich an meinem Gegenüber, das nehme ich und der Rest kommt weg. Dann sag ich: Machen, machen und beobachte und dann interveniere ich, teilweise ganz massiv, um sie dann wieder voll weitermachen zu lassen um dann wieder ganz massiv zu intervenieren. Bis alles choreografiert ist, da ist der Blick, da die Fußhaltung, bei dem Wort so – das steht dann alles ganz genau im Buch drin. Dabei geht es mir um die Komposition, an die ich glaube. Ich spreche intern in unserer Arbeit auch von Komposition und Choreografie. Auch wenn das nach Außen vielleicht schwer zu verstehen ist.

Ihr Ensemble ist, wie zum Beispiel bei Riot Dancer und den späteren ja permanent in Bewegung. Haben Sie bei dieser Choreografie keinen Widerstand erhalten?

Nein, das ist interessant. Wir haben ja die Trilogie auch einmal an einem Samstag hintereinander gespielt. Also etwas gemacht, was das Ensemble gar nicht gewohnt ist. Aber trotz der Anstrengung haben sie durchgehalten, sind förmlich getragen worden von dem, was da alles zurückkam. Haben sich ausgepowert bis zur körperlichen Erschöpfung. Es ist, glaube ich, eine Lustfrage, denn wenn ich in so einem Fall bis an die Grenzen gehe.

Es ist auffallend, dass Gewalt in ihren Arbeiten eine nicht unwichtige Rolle spielt.

Ja, das bedarf einer längeren Erklärung. Ich persönlich habe mich als Kind ein einziges Mal geprügelt. Drei Minuten. Das wars dann. <em>Lacht herzlich</em>. Ich hab eine absolute Angst vor körperlicher Gewalt. Das ist mit zutiefst fremd, ich kann damit überhaupt nicht umgehen. Ich gehe auch ungern ins Kino, wenn es um Gewalt geht, und dennoch hab` ich das in meinen Stücken. Ich glaube, wenn wir vorher von einem kathartischen Moment gesprochen haben, dass das, was im Theater passiert, stellvertretend passiert. Es passiert ja nicht real, ist sozusagen eine Form von Ritualisierung und Stellvertretung. Mir geht es darum, dass eine Gewalt, wenn sie psychisch ist, auch eine physische Umsetzung bekommt, weil wir ja auch mit der Physis arbeiten und nicht nur mit dem Intellekt und weil ich über das Physische zeigen will, was psychisch passiert. Ich glaube, dass bei der Betrachterin und beim Betrachter etwas Anderes passiert, wenn es eine physische Entsprechung hat, das heißt, es ist in erster Linie ein theatrales Mittel. Das heißt, dass wir, stellvertretend für das Publikum einen Prozess durchgehen, damit das Publikum das nicht machen muss. Es geht nicht um die schnöde Darstellung von Gewalt, wie zum Beispiel bei einem Krimi. Da kann man ja sagen, ok, die ballern jetzt rum und holt sich dabei ein Joghurt, obwohl dort Mord und Totschlag gezeigt wird. Aber wenn auf der Bühne einer eine Ohrfeige bekommt, ja dann hallo! Wir gehen selbstverständlich in den Medien mit brutalster Gewalt um, aber wenn wir Gewalt auf der Bühne sehen, haut sie uns einfach um, obwohl das nicht einmal 10% von dem ist, was wir im Fernsehen und Kino sehen können. Bei uns ist es aber psychologisch unterfüttert, und deswegen tut es so weh.

Der andere Punkt ist: Ich will per se nicht werten. Natürlich werte ich, ich kann ja nicht anders. In dem Moment, wo ich bin, werte ich. Das muss einem bewusst sein, alles andere wäre doof. Trotzdem gibt´s bei uns – sozusagen als Versuchsanordnung – die Vorgabe, dass wir´s nicht tun. Wenn z.B. Isabella in Riot Dancer sagt: „Ich möchte gerne jemanden umbringen.“, dann ist das etwas, das man vielleicht geträumt hat, aber kein Mensch wird glauben, dass sie das wirklich real umsetzen will, aber vorstellen kann man es sich. Das heißt auch, dass wir das zeigen, was das Theater spätestens seit den Griechen immer schon gemacht hat. Es passiert eine Zivilisierung von Gewalt im Ritual, um im richtigen Leben nicht Gewalt ausüben zu müssen. Da ist das Theater, meines Erachtens nach, eher das Refugium, das das kann, weil man nicht abschalten kann, nicht davonlaufen kann – es passiert ja jetzt.

Pressefoto JEDER GEGEN JEDEN aktionstheater ensemble c Gerhard Breitwieser 4

Jeder gegen Jeden aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser

Wenn ich Sie jetzt interpretiere, dann hat die Darstellung von Gewalt und ihre Wirkung auf der Bühne etwas von der christlichen Erlösungsmythologie.

Ja, das hat es. In allen Religionen und Kulturen gibt es so etwas. Letztlich geht es nämlich um Erlösung. Es gibt Leute, die sagen mir, Martin, das pack` ich einfach nicht. Dann ist das für mich ok und ich sage: Gut, das musst du dir auch nicht anschauen. Auch das finde ich dann in Ordnung.

Haben die Leute, mit denen Sie zusammenarbeiten, Schwierigkeiten, von Ihnen weg auf andere Bühnen zu wechseln, wo ihre Rolle eine ganz andere ist?

Die einen so, die anderen so. Die einen sagen, das geht gar nicht, weil sie genau wissen, was sie wollen und wie sie es umsetzen wollen. Und dann gibt´s andere, die das wieder befruchtend finden, die etwas anderes schon immer gerne spielen wollten. Ich schau` mir das dann auch gern an, das ist ja wichtig, dass man nicht immer nur im eigenen Süppchen kocht. Aber natürlich ist das eine ambivalente Geschichte.

Kommen wir zu Ihrer preisgekrönten Arbeit „Kein Stück über Syrien“. Ist in diesem Stück nun, schon einige Monate nach der Premiere, alles gleich geblieben?

Nein, mir ist es wichtig, immer aktuell zu bleiben, dran zu bleiben. Für die Premiere haben wir zum Beispiel am Tag davor noch eine Passage eingefügt und auch danach gibt es immer wieder, bei Bedarf, Änderungen. Bei diesem Stück haben wir gesagt, dass das das heißeste Eisen ist, das wir derzeit angreifen können – also machen wir es. Lacht wieder herzlich. Da wird es natürlich spannend. Aber wir haben uns vor der Premiere wirklich in die Hosen gemacht. Weil wir gesagt haben: Eines tun wir nicht: Wir reden nicht drüber, wie es irgendeinem Syrer geht, oder womöglich noch einen spielen. Um Gottes Willen! Das geht ja gar nicht! Aber es gibt darin eine Szene, in der ein Schauspieler erzählt, dass er, als er von dem Stück gehört hat, geglaubt hat, dass er einen Syrer spielen muss und sich schon Gedanken gemacht hat, wie er das anlegt. Also eigentlich ganz tief! In einem Stück wie diesem ist unglaublich viel Selbstverarsche drin, wobei das Hauptthema dabei ist, wie wichtig wir uns selbst nehmen. Wir nehmen uns in unserem Leid – diesem Leid, das wir von außen ertragen müssen – wahnsinnig wichtig! Gruber sagt dies höchst sarkastisch und lacht dabei sein wunderbares, befreiendes Lachen, sodass man sofort die Ironie dieses Satzes versteht. Das war meine Vorgehensweise aber es ist natürlich so, dass eine Schauspielerin real zwei Monate lang Flüchtlinge in ihrer 2-Zimmer-Wohnung übernachten ließ, bis zu 10 Leute waren bei ihr, also eigentlich hard-core. Jetzt tu ich ihr nicht einmal den Gefallen, dass sie besonders nett rüberkommt, sondern ich hab` das bis zum Erbrechen eitel dargestellt. Die Helfer-Geschichte feiere ich bis zum Abwinken und dabei schauen wir, was das auslöst, wie das ankommt. Abgesehen davon, dass wir in jedem Zuschauer und in jeder Zuschauerin wirklich etwas anderes auslösen, weil jeder eine andere Geschichte hat. Aber darum geht es ja auch, dass keine fertige Botschaft da ist. Drum auch zurück zum Anfang: Ich will meine Stücke nicht als fertige Botschaft verstanden wissen mit der man sagt: Das ist richtig, das ist falsch. Dazu kann man in die Kirche gehen, da muss man nicht ins Theater gehen. Ich bin mit Abstand an das Thema gegangen. Es geht darin um uns und nicht um die anderen und das ist zugleich auch irgendwo das Problem.

„Kein Stück über Syrien“ ist also eine beißende Satire.

Ja, extrem. Und ich habe mir dabei gedacht, apropos Angst: Es wäre ja nichts lustiger gewesen, als irgendein Rechten-Bashing zu machen. Die sitzen aber sowieso nicht bei uns drinnen. Wir müssen ja keinen Betroffenheitsschwank machen, wo man drin sitzt und sich denkt: Um Gottes Willen, jetzt wird man belehrt auch noch.

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Kein Stück über Syrien aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser

Das Belehren scheint nicht Ihres zu sein.

Nein, das halte ich nicht aus, denn da werde ich für deppert verkauft. Ich denke, es hat letztlich auch etwas mit Menschenwürde zu tun, dass ich sage, ja ein Teil in uns ist halt wirklich ganz daneben, aber wichtig ist, dass ich zumindest weiß, dass ich in gewissen Momenten eben ganz daneben bin. Wir lachen ja oft, wenn wir die Bänder von den Proben abhören. Unlängst sagte eine Schauspielerin: „Mein Gott, was hab` ich da für einen Scheiß zusammengeredet!“, und ich sagte: Gut, gut, dass du das hast! Gruber lacht wieder herzlichst. Worauf sie zu mir sagt: „Das kommt aber nicht in den Text!“, und ich antworte: „Ja sicher, das ist ja gespuckt!

Wenn ich Sie so erzählen und lachen höre, habe ich den Eindruck, dass Sie bei den Produktionen sehr viel Spaß haben.

Ja, extrem! Das ist auch ganz wichtig. Denn wenn man Spaß hat, dann passiert auch etwas.

Ist das Publikum eigentlich im Laufe der Jahre mit Ihnen mitgewachsen?

Ja, wir haben eine richtige Fangemeinde. Das freut mich sehr. Seit über zwei Jahren haben wir fast 100% Auslastung. Das ist natürlich auch der Lohn für das, was wir machen.

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Kein Stück über Syrien aktionstheater ensemble (c) Gerhard Breitwieser

Sind die Arbeiten mit viel Recherche verbunden, oder schöpfen Sie mehr aus dem Alltag, aus dem, was wir erleben und durch die Medien erfahren?

Es ist ja so, dass jeder jeden Tag Recherche macht. Als politischer Mensch fresse ich drei, vier Zeitungen am Tag, das geht gar nicht anders. Dann mach` ich mir natürlich auch Notizen, meistens denke ich mir: Das werde ich mir schon merken, was dann leider auch nicht so ist! Aber dann gibt es auch Aussagen, wo wir etwas behaupten und das müssen wir dann schon unterfüttern. Das macht dann meistens Martin, der da recherchiert. Aber zum größten Teil geht es tatsächlich um die alltägliche Kommunikation. Eine Bühnensituation ist ja kein Vortrag. Das wäre ein Fehler, das Geschehen auf der Bühne als theatralischen Vortrag zu betrachten. Bühne ist in irgendeiner Form immer ein Konflikt. Das muss gar nicht negativ konnotiert sein. Ein Konflikt von Plus und Minus. Über Plus und Minus entsteht Energie.

Heute greifen die unterschiedlichen Kunst-Genres ineinander. Tanz wird durch Sprechtheater erweitert, Bühnenbilder gestalten Bildende Künstler mit vielen verschiedenen Medien und so weiter. Wie stehen Sie zu dieser Grenzverwischung?

Ich habe in den ersten Jahren meiner Arbeit, als das noch nicht üblich war, zum Beispiel mit dem Tone Fink zusammengearbeitet. Der hat mir viele Kostüme gemacht. Dann habe ich in der Volksoper mit Tänzern gearbeitet, ein Stück, das viersprachig aufgeführt wurde. So etwas weicht immer wieder den eigenen Theaterbetrieb auf. Man will sich ja auch selber überraschen. Man darf ja nie glauben, dass es die Form schon gibt, oder dass man weiß, wie es geht. Sondern man muss sich immer wieder fragen, wie könnte es anders sein, wie könnte man es anders sehen? Ich habe mich eigentlich immer mehr von anderen Künsten und nicht vom Theater beeinflussen lassen, obwohl mein Ding total das Theater ist. Ich finde, dass sich auf der Bühne die Bilder, die man zeigt, immer aus dem Kontext ergeben müssen. Gestellte Bilder finde ich einfach nur furchtbar. Ich arbeite am liebsten ganz minimal, mit ganz wenigen Mitteln. Für die Bregenzer Festspiele hatte ich klarerweise größere Bühnenbilder, aber für deren Verhältnisse waren sie auch extrem reduziert. Obwohl ich ein totaler, extremer Ästhet bin. Wobei mir die subtile Ästhetik am Herzen liegt. Ich will nicht, dass man zum Beispiel bei den Kostümen auf Anhieb das Konzept dahinter sieht.

Pressefoto Martin Gruber aktionstheater ensemble © Stefan Grdic

Martin Gruber aktionstheater ensemble (c) Stefan Grdic

Gibt es etwas, was Sie gerne machen möchten aber bisher noch nicht konnten?

Ja, es gibt etwas, was sich von der Zeit bisher noch nicht ausging. Ich möchte einen Film machen. Die Faszination dabei ist die des anderen Mediums, dass man ein Close-up machen kann, dass man das Ultimative einfangen kann. Wenn ich sagen kann: Machs noch einmal, und noch einmal und dann: Das wars! Das ist schon geil!

Wenn Sie für Ihre Art von Theater ein Label vergeben müssten, welches wäre das?

Das ist die schlimmste Frage für einen Künstler überhaupt, das Reduziertwerden auf etwas!

Was ist das Tolle, das Schöne am Theatermachen für Sie?

Es ist, dass man das Wahrnehmen zum Beruf machen kann. Ich werde dafür bezahlt, dass ich Dinge wahrnehmen kann. Das Gegenteil von Wahrnehmen wäre sich abzuschotten.

Zeitgenössischer Tanz muss unzeitgemäß sein

Zeitgenössischer Tanz muss unzeitgemäß sein

Walter Heun ist eine Institution in Sachen zeitgenössischer Tanz. Seit der Spielzeit 2009/10 leitet er mit einem, wie er sagt, „wunderbaren Team“ das Tanzquartier, das nun nach insgesamt 15 Jahren im Museumsquartier dort selbst nun endlich auch mit einem Logo sichtbar geworden ist. „Kennen Sie den Buchbinder Wanninger?“, stellt er im Gespräch diesbezüglich die Frage in den Raum, womit klar ist, dass die Bemühungen um die Anbringung eines sichtbaren Logos im Museumsquartier nicht nur eine unendliche Geschichte, sondern eine absurde Langzeitepisode in seinem beruflichen Werdegang darstellt.

Man müsste meinen, dass Walter Heun sich bereits mitten in seiner Umorientierungsphase befindet. Verlässt er doch mit Ende der Saison das Haus, das zeitgenössischen Tanz vor allem auch mit einem theoretischen Unterbau bedenkt und abbildet.

Walter Heun (c) Sabine Hauswirh

Walter Heun (c) Sabine Hauswirh

Eigentlich habe ich mir gedacht, ich kann das letzte Jahr auschillen lassen. Aber das Gegenteil ist der Fall!

Das hat auch damit zu tun, dass Heun die Präsidentschaft des European Dance House Network (EDHN) übernommen hat, in der Meinung, es handle sich dort um einen Repräsentationsjob. Zumindest erzählt er diese Variante im Interview. Wer ihn aber näher kennt, weiß, dass das so nicht ganz stimmen kann, denn Heun ist einer, der erstens in jedem Job, den er bisher innehatte, intensiv über seine Aufgaben nachdachte und zweitens etwas bewegen will. Nur einfach repräsentieren geht bei ihm nicht.

Das Netzwerk hat vor drei Jahren eine EU-Förderung bekommen, nun muss der Antrag für die nächsten drei Jahre eingereicht werden. „Brutal viel Arbeit“ heißt das im Heun-Diktum. Aber selbstreflektierend wie er ist, weiß er, dass er sich den Präsidialjob selbst erschwert hat, denn anstelle eines 2-seitigen Positionspapieres gab er ein 7-seitiges Konzept ab, wie das Netzwerk als politische Kraft in Europa positioniert werden könne.

Dass diese Aufgabe neben viel Arbeit aber auch schöne Seiten hat, wird deutlich, als er, sichtlich dankbar, über seine Besuche in den Bürgermeisterämtern von Marseille oder Helsinki berichtet.

Jean-Claude Gaudin ist seit 22 Jahren als Bürgermeister in Marseille im Amt. Er ist sozusagen der Michael Häupl von Marseille. So jemandem einmal nahe zu sein, mit ihm auf Augenhöhe sprechen zu dürfen, war sehr schön. Oder auch das Gespräch mit der Vizebürgermeisterin in Helsinki in ihrem Büro, das stattfand, um ihr nahezubringen, dass sie für das dortige Tanzhaus doppelt so viel braucht, als sie bislang etatisiert hatte, war toll. Dabei hat sie mir die Pläne für das neue Guggenheim-Museum gezeigt und die Baustelle von ihrem Fenster aus erklärt. Das sind Momente, in denen man sich denkt: Da darf man schon ein privilegiertes Leben führen.

Heun gelang in den letzten Monaten auch der Coup, bei „Creative Europe“, dem Rahmenprogramm der Europäischen Kommission für die Unterstützung der Kulturbranche und des audiovisuellen Sektors mit zehn Mitgliedern des EDHN vorstellig zu werden und den Verantwortlichen die Realität, Sorgen und Nöte der europäischen Tanzszene vorzustellen.
Das zeigt nicht nur seinen hohen Vernetzungsgrad, sondern auch die internationale Anerkennung, die er im Bereich des zeitgenössischen Tanzes genießt.

Die Arbeit und Aufgaben im Tanzquartier erklärt er wider Erwarten gar nicht aus einer philosophischen Meta-Ebene, sondern sehr pragmatisch.

Wir positionieren uns im Tanzquartier politisch eher in grundsätzlichen Fragen. Wie kann unser Zusammenleben funktionieren? Wie können wir zusammen sein? Wenn man die 10 Gebote der christlichen Religion oder auch anderer hernimmt, oder die Grundgesetze, dann steht immer dasselbe drin: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Da steht drin, dass man dem anderen nicht etwas wegnehmen soll und die Freiheit des einen auch immer die Freiheit des anderen ist. Diese grundlegenden Prinzipien sollte man, wenn man in Frieden leben will, tunlichst einhalten, egal welcher politischen Couleur man angehört. Wenn man sich das Geschehen in Amerika ansieht, dann bemerkt man, dass man zwar eine Wahl gewinnen kann, sein Volk gewinnt man damit aber noch lange nicht, wenn man mit Mitteln agiert, die zutiefst undemokratisch und unmenschlich sind.

Mit dem Format „scores“ wurde unter seiner Ägide ein weit über die Grenzen Österreichs hinaus beachtetes Festival geschaffen, das in diesem Jahr den Titel „Out of border, out of order“ trug und so etwas wie eine Zusammenfassung der vergangenen Jahre im Tanzquartier bedeutete. Dabei waren internationale Künstlerinnen und Künstler in Wien zu Gast, die, zum Angreifen nahe, dem Wiener Publikum ein Kennenlernen „des Fremden, des Anderen“ ermöglichten.

Wenn Menschen, die sich immer über „die Anderen, die Fremden“ aufregen, vielleicht einmal ein paar von den “Anderen“, den „Fremden“ kennenlernen würden, dann würden sie feststellen, dass es unheimlich viele Gemeinsamkeiten gibt. Unsere ganze westliche Kultur ist aus dem Nahen Osten, über das persische Reich nach Griechenland, über Alexandria in den Mittelmeerraum gekommen. Wie kann man so vergesslich sein, sich jetzt hinstellen und sagen: Die wollen wir nicht haben?

Obwohl Heun nur mehr einige Monate im Haus bleibt, hat er Visionen, was er hier in Zukunft machen würde.

Mit einer längeren Perspektive hätte ich vielleicht dafür gesorgt, dass der Tanz in die Regionen geht, in Orte, die sich scheinbar von der Globalisierung ausgegrenzt fühlen, in denen die Menschen unbestimmte Ängste vor dem Fremden haben, obwohl sie es eigentlich nicht kennen. Deswegen können sie auch solche Ängste haben. Wenn sie einmal miterleben würden, was ich im März oder April bei der Vorbereitung unserer letzten scores-Ausgabe in Beirut erlebt habe, würde das anders aussehen. Da saßen wir abends in einem Cafe und einer der arabischen Musiker packte sein Schlaginstrument aus, der nächste nahm seine Oud (arabische Kurzhalslaute), eine iranische Tänzerin kam dazu und plötzlich tanzten Menschen aus 50 Nationen miteinander. Da stellte ich mir die Frage: „Wo ist eigentlich das Problem?“ Wenn so etwas oder so etwas Ähnliches mehr Menschen miterleben könnten, dann würden sich die Ängste vielleicht mehr legen. Deswegen würde ich zukünftige Tanzaktivitäten auch in die Regionen verlagern. Man könnte dort mit verschiedenen Formen der Tanzvermittlung arbeiten, damit da die Leute einfach die Qualität von Begegnungen mit den anderen, die im Tanzen liegt, mitbekommen.

Und da das Tanzquartier, wie Heun sagt, dann doch ein wenig subversiv ist, würde er dem Publikum dort den ein oder anderen Künstler aus einem anderen Kulturkreis unterjubeln, den er sehr fremd findet. Die Brücke würde er über ortsansässige Künstler schlagen.

Dann ist halt da einer dabei, den sie nicht kennen, aber ganz nett finden und hinterher im Gespräch vielleicht rausfinden: „Ach, der ist ja gar nicht von da!“ Man muss irgendwie die Brücke schlagen. Es fühlen sich wahnsinnig viele Menschen von dem politischen System ausgegrenzt, das hat man in Amerika ganz deutlich gemerkt. Die gesellschaftliche Spaltung erinnert an die Zeit vor den großen Kriegen. Und das ohne wirkliche Not. In den 20er Jahren war Weltwirtschaftskrise, die Gesellschaft polarisiert. Damals hatten die Leute wirkliche Not, Hunger gelitten. Da sind wir weit davon entfernt. Aber vielleicht ist es jetzt so, weil wir in den sozialen Medien nur mehr mit den Leuten kommunizieren, die ohnehin der gleichen Meinung wie wir sind. Dadurch verfestigt sich diese Meinung und es gibt keinen journalistischen Filter, keine ausgewogene Berichterstattung mehr.

Das erste Mission-Statement des Tanzquartier-Chefs und seinem Team betraf die Gastfreundschaft, der sich der Intendant bis heute verpflichtet fühlt. Auf die Frage, worauf der Kurator, Tanzproduzent und -veranstalter, Institutsleiter, Networker eigentlich stolz sei, führt er neben dem Vorantreiben der künstlerischen Forschung und Theorie am Haus, zu dem sich auch ein gesellschafspolitischer Aspekt gesellte, das Feeling an. Jenes Gefühl, welches das Publikum des Tanzquartiers immer wieder einmal feststellen lässt: „Bei euch ist es wahnsinnig nett.“ Womit sich der Bogen zur Idee der gelebten Gastfreundschaft wieder schließt.

Ein Tanzhaus kann als Idee für eine offene Gesellschaft gesehen werden. Wenn ich mir vorstelle, eine Gesellschaft würde so arbeiten wie wir es im Tanzquartier tun, dann gäbe es weniger Probleme mit der Integration und Inklusion von anderen. Darauf bin ich stolz. Aber ich weiß auch um die Verantwortung um das Haus. Was das Tanzquartier macht, wird auf der ganzen Welt wahrgenommen. Wenn Politiker nachdenken: „Was machen wir mit dem Haus in Zukunft?“, müssen sie wissen: Das ist nicht nur ein lokales Bespieltheater, für ein lokales Publikum, das man im Grätzel befriedigen muss. Das TQW ist ein international positioniertes Haus, für das man Verantwortung trägt, die weit über Wien hinaus geht. Es wurde über 15 Jahre aufgebaut, dementsprechend weitsichtig muss man damit auch umgehen.

Wir haben ja seit 2001 eine ganz neue Generation von Choreografen national und international mit aufgebaut. Ian Kaler, den wir in allen Produktionen von sehr frühem Beginn an koproduziert haben. Deutinger/Navaridas, Loose Collective, Nadaproductions, Jefta van Dinther, Noé Soulier, Mette Ingvartsen, Laurent Chetouane uvm. Dann kommen noch die strukturbildenen Maßnahmen dazu, die auch der Szene die Möglichkeit boten, sich weiterzuentwickeln. Dazu gehört das Format „FEEDBACK“, als Plattform für internationale Veranstalter, die sich über die hiesige Szene informieren wollen, die heute großen Zuspruch hat und international wahrgenommen wird. Der Aufbau der Mediathek, die Digitalisierung sämtlicher Aufzeichnungen, die seit 2001 im TQW gemacht wurden, die Plattform für österreichische Künstler – Open Space Austria, dann INTPA, die Vermittlungsplattform und natürlich die Mitgründung und Tätigkeit im European Dancehouse Network.

Walter Heun ist ein überzeugter Anhänger von life long learning.

Ich begreife meine Rolle im Tanz als ein permanentes Forschen und Erweitern meines eigenen Wahrnehmungsspektrums oder der Möglichkeiten, wie ich mich mit Kunst und der Welt auseinandersetzen kann. Der Tanz ist da ein extrem gutes Medium, um mit sich voranzukommen. Insofern habe ich das Gefühl, ich lerne ständig was dazu.

Und als ob die Leitung eines Hauses nicht Denksport genug wäre, gelingt ihm auch noch eine Neudefinition des zeitgenössischen Tanzes.

Die Philosophie der Zukunft muss in ihrer Zeit immer unzeitgemäß sein, sagte Nietzsche in seinen „unzeitgemäßen Betrachtungen“. Das gilt genauso für den zeitgenössischen Tanz. Auch er muss in seiner Zeit immer unzeitgemäß sein. Er ist nicht zeitgenössisch, weil er den Trend der Zeit aufgreift, sondern er ist unzeitgemäß, weil er sich mit den zukünftigen Möglichkeiten von Tanz beschäftigt. Wenn man konsequent sein will, müsste man immer von dem unzeitgemäßen Tanz sprechen, statt von zeitgenössischem.

Walter Heun (c) Regine Hendrich

Walter Heun (c) Regine Hendrich

Noch ist seine eigene berufliche Zukunft im Moment ungewiss, aber ein Wunsch steht ganz oben auf seiner Liste:

Ich wünsche mir einfach mehr Zeit. Ich habe mich für keine anderen Häuser beworben, die ausgeschrieben waren. Sie haben mich nicht gereizt. Ich möchte in Ruhe auch wieder mehr lesen. Ich war überrascht, als mich einige Kollegen in der Leitung der Stadsschouwburg in Amsterdam gesehen haben. Eine der wenigen Sachen, die mich gereizt hätten, wenn es nicht schon an Sasha Waltz vergeben wäre, wäre das Staatsballett Berlin gewesen. So ein Ballettensemble mit 90 bis 100 Tänzern zu nehmen und verschiedene Ensemblearbeit zu machen und voranzutreiben, hätte mich gereizt. Ich habe fünf Jahre als Spartenchef am Luzerner Theater gearbeitet und habe die Position eines Ballett-Direktors bezogen und die Sparte in ein Choreographisches Zentrum umgewandelt. Und den Etat, der fürs Ballett da war, habe ich genutzt, um in Koproduktion mit Residence-Modellen mit zeitgenössischen Choreografen zu arbeiten und sie kozuproduzieren. Das wäre ein Modell, das würde ich gerne noch einmal als Intendant probieren. Vielleicht auch für andere Sparten. Was mir auch Spaß macht, ist, Performance im Kunstkontext zu kuratieren.

Um dann ganz sportlich abschließend hinzuzufügen:

„Schaun mer mal!“, wie der Franz Beckenbauer immer so schön gesagt hat.

Uns rennen die Menschen förmlich die Bude ein

Uns rennen die Menschen förmlich die Bude ein

Das Volkstheater ist dabei, Theater nicht nur für, sondern vor allem auch mit den Menschen aus Wien zu machen. Ein Prozess, der seit einem Jahr läuft, aber einen langen Atem braucht.

„Ich wünsche mir, dass es jeden Tag regen Betrieb im schwarzen Salon gibt, der unser Probenraum ist. Morgens Workshops für Schulen, dann Spieltriebe-Clubs, dann Fortbildungen für LehrerInnen.“

Die Bemühungen, die seit der ersten Spielzeit in Zusammenhang mit dem Projekt „Junges Volkstheater“ starteten, tragen bereits erste Früchte. Constance Cauers, Leiterin des „Jungen Volkstheaters“, erzählte mit viel Leidenschaft über ihre Arbeit, die theatrale Grenzen sprengt. Ziel für sie ist es, „die Stadtrealität Wiens im Volkstheater“ abzubilden.

Constance Cauers - Leiterin des Jungen Volkstheaters (c) www.lupispuma.com/ Volkstheater

Constance Cauers – Leiterin des Jungen Volkstheaters – Foto:© www.lupispuma.com / Volkstheater

Und dazu gehören neben den traditionellen Theaterbesuchenden auch Menschen, die bisher keinen oder wenig Kontakt mit dem Volkstheater hatten. Hilfreich dabei sind an die 20 Kooperationspartner. Angefangen vom Mumok über die Angewandte, bis hin zur VHS Ottakring oder Flüchtlingseinrichtungen. Das Junge Volkstheater ist in erster Linie kein Theater welches für ein junges Publikum produziert – vielmehr wendet es sich an Kinder, Jugendliche, aber auch an Erwerbstätige und Senioren, die über die Selbstbeteiligung beim Theatermachen miteinbezogen werden. „Es geht in erster Linie darum, das, was wir im Theater tun, nach außen zu bringen. Auf der anderen Seite möchten wir die Meinungen und Realitäten der Menschen ins Theater zurück spiegeln.“

„Da rennen uns die Menschen förmlich die Bude ein. Spielen, mitspielen, Theaterproduktionen entwickeln, wollen alle. Da haben wir Bewerbungen von 10-jährigen bis 72-jährigen.“

Um das zu erreichen, gibt es verschiedene Schienen im Haus.

„Das eine ist die ganz klassische, theaterpädagogische Schiene, nämlich die Zusammenarbeit des Theaters mit Schulen und Universitäten. Dann gibt es weitere Formate wie das Theaterfrühstück, den Theaterglobus, die Theaterkritiker/innen und den Spieltriebe-Bereich.“ Letzterer ist eines der gefragtesten Angebote des Hauses.

„Da rennen uns die Menschen förmlich die Bude ein. Spielen, mitspielen, Theaterproduktionen entwickeln, wollen alle. Da haben wir Bewerbungen von 10-jährigen bis 72-jährigen. Wer bei uns mitmacht, kommt richtig rein. Zum Beispiel die Kinder, die bei „Ausblick nach oben“ gespielt haben, irgendwo fleuchen die bei uns im Theater immer noch rum. Die eine spielt bei Medea mit, die andere ist in der Dorothea Neff-Jury gewesen, die Dritte ist bei den Theaterkritiker/innen, eine macht Hospitation.“

Das Junge Volkstheater in Aktion(c) Stephan Engelhardt

Das Junge Volkstheater in Aktion(c) Stephan Engelhardt

Das Wichtigste an all diesen Angeboten ist: Sie sind kostenlos und sehr niedrigschwellig. Jeder kann daran teilnehmen. „Wir gehen mit unserem Angebot aus dem Theater raus, raus aus dem Elfenbeinturm, weil wir wissen wollen, was die Leute draußen bewegt. Das sind die Geschichten, die wir im Theater auch erzählen wollen. Ohne dieses wechselseitige Verhältnis funktioniert das Theater nicht. Mitmachen kann jeder, egal welche finanzielle Ausstattung vorhanden ist.“

Dass diese Arbeit aber kein reiner Selbstzweck ist, erklärt Cauers so:

„Alles was wir hier tun, hat einen Rückschluss im Spielplan. Für das Stück „Der Trafikant“ arbeiten wir mit Menschen mit Fluchterfahrung in Zusammenarbeit mit dem Arbeitersamariterbund. Beim Projekt „Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ mit der Angewandten und der Kinder-Uni-Kunst.“

Dass es bei so neuartigen Projekten zu letztendlich auch produktiven Missverständnissen kommen kann, zeigte ein Beispiel, bei dem mit einer Schule in der Schopenhauerstraße zusammengearbeitet wurde.

„Bei diesem Projekt entstand ein anderes Projekt, das jetzt noch in der Planungsphase ist. Wir sind in die Schule gegangen und haben mit verschiedenen Künstlern zum Mädchen mit den Schwefelhölzchen gearbeitet. Träume, Wünsche und ein gutes Leben standen dabei im Vordergrund der Interaktion mit den Kindern. Nach drei Stunden haben sie gefragt: Und wann startet das Theater? Wir hatten keine Requisiten, Masken und Kostüme, sondern präsentierten ein neues Theater. Daraus entstand eine lange Diskussion darüber, was Theater eigentlich ist. Und aus dieser Diskussion und einigen Erkenntnissen entstand die Idee, in der nächsten Spielzeit einen Theater-Kinderkongress zu realisieren. Hauptthema: Was ist überhaupt Theater? Dabei werden die Kinder auf Forschungsreise hier im Haus geschickt. Sie sollen mit Forscherfragen durch die verschiedenen Abteilungen gehen und das, was sie gesehen haben, dann ihren Mitschülern präsentieren.“

„Ein erster Theaterbesuch muss entfachen. Es ist ganz wichtig, dass wir etwas finden, was das Feuer entflammt, um dann zu sagen, jetzt kann ich den Menschen auch mal etwas zumuten, was nicht ad hoc auf der ganzen Ebene verständlich ist.“

Neben der Arbeit mit Schülern ist es dem Team um Cauers aber auch enorm wichtig, unterschiedliche Kulturen ins Volkstheater zu bringen.

„Über die VHS Ottakring ist ein Kontakt zu einer jungen Künstlergruppe aus Bagdad entstanden. Es ist eine kleine Künstlercommunity, die dort gemeinsam gearbeitet hat. Die Menschen sind zu unterschiedlichen Zeiten geflüchtet und haben sich hier wiedergefunden. Nun suchen sie Orte, wo sie Kunst machen können. Hier fragen wir, gäbe es Möglichkeiten zusammenzuarbeiten? Schließlich sind wir ein Ort für alle und suchen Mittel und Wege das zu ermöglichen.“

Eine weitere Herausforderung ist es, Erstbesuchende vom Theater zu begeistern.

„Ein erster Theaterbesuch muss entfachen. Es ist ganz wichtig, dass wir etwas finden, was das Feuer entflammt, um dann zu sagen, jetzt kann ich den Menschen auch mal etwas zumuten, was nicht ad hoc auf der ganzen Ebene verständlich ist. Unsere Meinung ist: Theater muss nicht auf der ganzen Ebene verständlich sein, sondern du kannst dir auch Momentaufnahmen heraussuchen, die dich interessieren.“

Das Junge Volkstheater in Aktion(c) Stephan Engelhardt

Das Junge Volkstheater in Aktion(c) Stephan Engelhardt

Was würden Sie sich wünschen, dass Ende der Saison stattgefunden hat?

„Ich wünsche mir, dass es jeden Tag regen Betrieb im schwarzen Salon gibt, der unser Probenraum ist. Morgens Workshops für Schulen, dann Spieltriebe-Clubs, dann Fortbildungen für LehrerInnen.

Ich liebe den Geräuschpegel, wenn eine Schulklasse die Treppe hochkommt. Junge Leute verhalten sich ja nicht so, wie man sich im Theater verhalten muss. Das bedeutet für unser Theater auch, dass wir uns anderen Sichtweisen auf das Theater öffnen müssen. Die Leute wissen nicht, dass hier tagsüber gearbeitet wird. Die jungen Menschen haben, wenn sie ans Theater denken, als erstes nicht den Billeteur, nicht die Ankleiderinnen im Kopf, sondern die Schauspieler. Aber Theater ist ein großes Ganzes, ein Kreislauf, der sich schließt, wenn der Zuschauer dazukommt.“

Eigentlich ist es ein einfacher Nenner, der für die neue Idee des Jungen Volkstheaters steht.

„Das Volkstheater soll ein Ort sein, an dem ich sein kann wie ich bin und offen meine Meinung sagen kann.“

Weitere Informationen zum Programm des Jungen Volkstheaters auf der Webseite.

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