Ein Kompendium der Lust

Ein Kompendium der Lust

Michaela Preiner

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2.

November 2015

Ingvartsen erhebt Intimes zum kollektiven Erlebnis. Ästhetisch aufbereitet wandelt es sich zum kulturellen Event

Mette Ingvartsen wartete mit zwei Arbeiten im Tanzquartier auf. Aus ihrer Serie „Red Pieces“ präsentierte sie zum einen „69 positions“ aber auch „7 pleasures“, die in diesem Artikel rezensiert werden.

Im Vorraum zur Halle G im Museumsquartier ist an diesem Abend eines auffallend: Auf die Vorstellung von Mette Ingvartsen „7 pleasures“ im Tanzquartier Wien warten auffallend viele ältere Männer. Wer meint, dass hier ein Klischee aufgezeigt wird, liegt falsch. Die Realität überholt, was die Publikumszusammensetzung betrifft, an diesem Abend das Klischee.

Das, was auf der Bühne gezeigt werden wird, soweit steht fest, hat etwas mit nackten Tatsachen zu tun. Und das wiederum ist Augen- und sonstiges Futter auch für Menschen, die sonst eher selten zu zeitgenössischen Tanzperformances kommen. Aber sei´s drum. Die dänische Choreografin und Tänzerin wird sich dieses Phänomens bewusst sein. Beim Eintritt ruft jemand vom Saalpersonal laut „keine Fotos, keine Videos“ und tatsächlich erweist sich das Publikum diszipliniert und erhält im Gegenzug eine intensive Vorstellung. Diese wirkt, das kann man immer wieder erkennen, auf besondere Weise auf das Ensemble selbst. Die Zusehenden werden dabei in speziellen Szenen zum Voyeurismus gezwungen, da die Interaktionen auf der Bühne dafür eigentlich gar keine Zuseher benötigen. Aber es gibt auch Bilder, die ästhetische Komponenten anbieten, die man gerne von den Zuschauerrängen aus verfolgt.

Wie gleich zu Beginn. 12 Darstellerinnen und Darsteller stehen im Publikum auf, ziehen sich nackt aus und begeben sich auf die Bühne. Ballen sich bis auf eine Person zu einem lebenden Menschenknäuel zusammen, zu einem 12-Zeller. Dieser schiebt sich dann vom Boden hoch auf ein schwarzes Sofa, hinab von demselben und quer durch den Raum, bis er bei jener Frau ankommt, die im Vordergrund der Bühne alleine auf einem Fauteuil sitzt. Das Bühnenbild zeigt ein wenig heimeliges Wohnzimmer mit Couch, Tisch, einer Yuccapalme, Sesseln, zwei orangen Knäuellampen. Es bietet, das wird im Laufe der Vorstellung klar, nur die Illusion eines geschützten Raumes. Die Öffnung zum Publikum hin stellt keinen Schutz dar, sondern genau das Gegenteil. Dies dürfte für das Ensemble neben sehr kraftraubenden Aktionen die größte Herausforderung darstellen. Denn schließlich zeigen sich die Frauen und Männer nicht nur nackt, sondern in Positionen, die normalerweise hinter verschlossenen Türen eingenommen werden.

Das Zucken der Leiber, das bald einsetzt, fordert konditionsmäßig alles, aber es setzt auch jede Menge Adrenalin frei. Sich zum Rhythmus des harten Beats bis zur Verausgabung zu bewegen, bewirkt nach einer bestimmten Zeit offenbar ein unglaubliches Glücksgefühl. Zumindest lässt sich das an den Mienen der Tänzerinnen und Tänzer gut ablesen. Erinnerungen an die Happenings der 68er steigen auf. Damals war es das erste Mal in der Geschichte, dass der Zustand der Nacktheit, in gruppendynamischen Aktionen ausprobiert, ungestraft blieb.

Langsam verändern sich die Bewegungsmuster auf der Bühne und zeigen schließlich Kopulationsbewegungen, wenngleich auch ohne Erektionen oder Penetrationen. Und doch scheint sich die Menschenmasse in einem gemeinsamen, vorexstatischen Zustand zu befinden. Immer wieder verändert Ingvartsen die unteschiedlichen Bilder. Lässt auf Exstase eine Ruhephase folgen bis sich die Szenerie erneut verändert. Sie wird dies an diesem Abend noch mehrfacht tun und dabei sexuelle Praktiken anklingen lassen, die mit Lust aber auch mit brutaler Unterwerfung zu tun haben. In einer Sequenz werden Objekte, wie die Palme, aber auch ein großes, schwarzes Baurohr und der Tisch einfach zu Lustobjekten uminterpretiert. Bondage-Aktionen, masochistische und sadistische Eingriffe in die Körperlichkeit der anderen können noch immer als individuelle Lustparameter gelesen werden, die hier an diesem Ort und zu dieser Zeit öffentlich praktiziert werden. Noch herrscht, obwohl sich hier die ersten Ansätze zu Machtverschiebungen unter den Darstellerinnen und Darstellern zeigen, eine Egalität unter den Menschen. Noch scheint alles mit dem Einverständnis eines jeden und einer jeden stattzufinden. Bis hin zu jenem Moment, in dem sich sechs der insgesamt 12 Personen wieder anziehen.

Schlagartig gibt es kein vereinheitlichendes „Wir“ mehr, sondern die Aufteilung in Schwarze und Weiße. In solche, die Macht ausüben und solche, die Macht erdulden müssen. Nun kippt das, was zuvor noch als Lust erlebt werden konnte, ins Brutale, Menschenverachtende. Kollektive Erniedrigung verbreitet eine Stimmung der Ohnmacht. Nun im Publikum sitzen zu müssen und nicht einschreiten zu dürfen, erweist sich in gewissen Momenten als pure Qual. Die Bandbreite der Emotionen von den Zusehenden dürfte sich zwischen Lust und Abscheu bewegen. Je nach Sozialisation und eigener sexueller Präferenz.

Ingvartsen erhebt Intimes zum kollektiven Erlebnis. Ästhetisch aufbereitet wandelt es sich zum kulturellen Event, dessen Subtext es jedoch aufgrund der eindeutigen Bilder schwer hat, an die Oberfläche zu dringen. Was ist es, was sie hier zeigt, was in der Fülle des pornografischen Internetangebotes nicht gesehen werden kann? Ist es allein die künstlerische Transformation, die einen Abend wie diesen gesellschaftsfähig macht und wenn ja, was soll diese bewirken? Die Erfahrungen, die für die Truppe selbst besonders sein dürften, sind auf das Publikum nur bedingt übertragbar. Was bleibt, ist schließlich die Erinnerung an einzelne Bilder und Szenen, die den menschlichen Leib in seiner Lustbewegtheit in mannigfachen Positionen in einem öffentlichen Raum zeigen. Nacktheit an sich ist schon seit den 20er Jahren auf den europäischen Tanzbühnen ein Phänomen, das immer wieder in unterschiedlichen Variationen auftaucht. Dass dabei jedoch wie bei Ingvartsen das Thema der Sexualität und ihrer Spielarten behandelt wird, so explizit behandelt wird, ist neu.

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